EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton (Quelle: pubaffairsbruxelles.eu)

Die politische Zensur der sozialen Medien hat innerhalb der EU diesen Sommer einen neuen Anschub erfahren. Nachdem vergangenen November das neue EU-Digitalgesetz („Gesetz über digitale Dienste“) verabschiedet wurde, wurden in den vergangenen Monaten seitens der bürgerlichen Politiker Ankündigungen gemacht, noch schärfer vorzugehen.

Der EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton kündigte im Juli an, dass die EU-Kommission den Zugang zu sozialen Netzwerken auf Grundlage des Gesetzes vollständig sperren kann, wenn deren Betreiber „nicht gegen rechtswidrige Inhalte bei sozialen Unruhen vorgehen“. Offensichtlich stehen die Aussagen des Franzosen im Kontext zu den wenige Tage zuvor stattgefundenen Aufständen in den Arbeitervierteln nach der Ermordung Nahels. Breton führte aus: Wenn es hasserfüllte Inhalte gibt, Inhalte, die beispielsweise zum Aufstand oder zum Töten aufrufen […], sind die Plattformen verpflichtet, diese zu löschen. Wenn sie dies nicht tun, werden sie sofort sanktioniert.“ Das gehe von hohen Geldstrafen bis zu direkten Verboten des Betriebs der Plattformen „auf dem Territorium“ der betreffenden Staaten. Drohungen, die nicht weniger als Befehle an die Plattformen darstellen, denn die Imperialisten aus der EU haben es hierin offensichtlich eilig. Bretons Aussagen folgten auf eine Stellungnahme des französischen Präsidenten Macron, der infolge der Aufstände den Umgang mit sozialen Medien durch Jugendliche in Frage gestellt und Verbote, Sanktionierungen und „Abschneidungen“ des Zugangs ins Spiel gebracht hatte, „wenn sich die Dinge abkühlen“.

Was es in den Medien bedeutet, dass „Dinge sich abkühlen“, wird im Digitalgesetz besonders als Hassrede, Gewaltaufrufe oder Terrorpropaganda“ festgelegt. Was auf der Straße verboten sei, müsse nun gleichermaßen im Netz bekämpft werden. Wie schwammig diese Begriffe gehandhabt werden, zeigt sich noch weiter unten. Konkreter haben mit dem Gesetz die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten Zugang zu den Algorithmen „sehr großer Online-Plattformen“ erhalten. Diese, mit über 45 Millionen monatlichen aktiven Nutzern, wurden diesen April definiert: Alibaba AliExpress, Amazon, der App Store von Apple, Booking.com, Facebook, Google Play, Google Maps, Google Shopping, Instagram, LinkedIn, Pinterest, Snapchat, TikTok, Twitter, Wikipedia, YouTube und Zalando; dazu die Online-Suchmaschinen Bing und Google Search. Und wenn sich die Dinge so richtig abkühlen, oder anders gesagt, „Wenn eine Krise eintritt, z. B. eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit oder der Gesundheit“, dann„kann die Kommission von sehr großen Plattformen verlangen, dringende Bedrohungen auf ihren Plattformen zu begrenzen. Diese besonderen Maßnahmen sind auf drei Monate begrenzt.“  Dazu gehöre auch, dass die „sehr großen Online-Plattformen“ „etwa gezwungen werden könnten, Informationen an Aufsichtsbehörden und Experten abzugeben.“ So wird die Kontrolle des Staates über den gesamten bürgerlichen Medienapparat erheblich größer, seine Handhabung mehr zentralisiert und die Demokratie stellt sich mit dem Gesetz darauf ein, im gegebenen Moment in dieser Hinsicht in Winterschlaf zu gehen.

Auf der Website des Europaparlaments findet sich folgende Beschreibung der Anforderungen an die Online-Dienste durch das neue Gesetz:

Verantwortlichere Online-Plattformen

Nach den neuen Vorschriften müssen Vermittlungsdienste, d. h. Online-Plattformen - wie soziale Medien und Marktplätze - Maßnahmen ergreifen, um ihre Nutzer vor illegalen Inhalten, Waren und Dienstleistungen zu schützen.

    • Algorithmische Rechenschaftspflicht: Die Europäische Kommission und die Mitgliedsstaaten werden Zugang zu den Algorithmen sehr großer Online-Plattformen haben;
    • Rasche Beseitigung illegaler Online-Inhalte, einschließlich Produkten und Dienstleistungen: ein klareres "Melde- und Aktions"-Verfahren, bei dem die Nutzer die Möglichkeit haben, illegale Inhalte online zu melden, und die Online-Plattformen schnell handeln müssen;
    • Schutz der Grundrechte auch online: stärkere Vorkehrungen, um sicherzustellen, dass Meldungen nicht willkürlich und nicht diskriminierend und unter Wahrung der Grundrechte, einschließlich der Meinungsfreiheit und des Datenschutzes, bearbeitet werden;
    • Verantwortungsvollere Online-Marktplätze: Sie müssen dafür sorgen, dass die Verbraucher sichere Produkte oder Dienstleistungen online erwerben können, indem sie die Kontrollen verstärken, um nachzuweisen, dass die von den Händlern gemachten Angaben zuverlässig sind (Grundsatz "Kenne deinen Geschäftskunden"), und Anstrengungen unternehmen, um zu verhindern, dass illegale Inhalte auf ihren Plattformen erscheinen, auch durch Stichproben;
    • Opfer von Cybergewalt werden besser geschützt, insbesondere gegen die nicht einvernehmliche Weitergabe illegaler Inhalte (Rachepornos), indem sie sofort aus dem Verkehr gezogen werden;
    • Strafen: Online-Plattformen und Suchmaschinen können mit Geldbußen von bis zu 6 % ihres weltweiten Umsatzes belegt werden. Im Falle sehr großer Online-Plattformen (mit mehr als 45 Millionen Nutzern) wird die EU-Kommission die alleinige Befugnis haben, die Einhaltung der Vorschriften zu verlangen;
    • Weniger Belastungen und mehr Zeit zur Anpassung für KMU: Eine längere Frist für die Anwendung der neuen Vorschriften wird die Innovation in der digitalen Wirtschaft fördern. Die Kommission wird die möglichen wirtschaftlichen Auswirkungen der neuen Verpflichtungen auf kleine Unternehmen genau beobachten.“

Natürlich ist alles mit dem Schutz der Nutzer begründet, und außerdem soll das Gesetz „sicherstellen, dass die Meinungsfreiheit geschützt ist“.

Das Gesetz stellt einen krassen Eingriff von staatlicher Seite in die Geschäfte zahlreicher Monopole und das soziale Leben Hunderter Millionen ein. Das Gesetz und seine nun proklamierte Handhabung stellen eine Reaktion auf die Entwicklung der Krise des Imperialismus auf politischer und ökonomischer Ebene dar. Sowohl anhand des Algorithmen-Zugriffs als auch anhand der angedrohten Geldbußen für die Unternehmenwird die Kontrolle des Staates über die Massen forciert, ein bedeutender Schritt in der Reaktionarisierung des Staates. Durch die hohen Geldbußen werden zudem vorsichtige Schritte gemacht, außereuropäische Tech-Konzerne zu bedrängen, um staatsmonopolistischen Kapitalismus mit Internet-Unternehmen zu entwickeln, die in den imperialistischen Ländern der EU im Weltvergleich bis jetzt sehr schwach entwickelt. Zuerst kriegt das natürlich der chinesische Imperialismus ab; vergangene Woche verhängte die EU gegen TikTok aufgrund von „Verstößen gegen die Europäische Datenschutz-Grundverordnung“ eine Strafe von 345 Millionen Euro. An diesem 15. September waren die Maßnahmen des Digitalgesetzes nach viermonatiger Vorlaufzeit (wo die betroffenen Unternehmen Maßnahmen treffen konnten) in Kraft getreten. Während TikTok noch für seine Probleme beim Datenschutz (auch in der bürgerlichen Presse) fleißig angezählt wird, hat es den zweiten oben stehenden Punkt des Gesetzes schon viel besser angewandt – nämlich Zensur. Denn es geht allgemein hier weniger um Meldeverfahren, als das die Unternehmen selber, bzw. durch die EU-Kommission bestellte Staatsleute, das verbannen, was den Imperialisten unlieb ist. Und bei TikTok ist diese Sache weit fortgeschritten, und mit in vorderster Reihe sind natürlich revolutionäre Inhalte betroffen. Uns wird berichtet, dass hochgeladene Kurzvideos, in denen rote Fahnen auf Demonstrationen oder Parolen rufende Menschen zu sehen sind, in den bürgerlichen Medien weit verbreitete Bilder von Kämpfen der Massen gegen die Polizei, oder Ausschnitte von legalen historischen Filmen aufgrund von „Verstoßen gegen die Community-Richtlinien“, „Schockierenden oder grausamen Inhalten“ oder „Hassrede oder hasserfülltem Verhalten“ und „gewalttätigen Organisationen oder Individuen“ von der Plattform entfernt werden. So entlarven die Maßnahmen in der Praxis völlig ihren konterrevolutionären Geist und zeigen, wie sehr die herrschende Klasse ihre „Grundrechte“ mit Füßen, mit Stiefeln tritt. TikToks Begründungen, besser gesagt Vorwände, stehen im Licht der gutmenschlichen Argumente der Ampel-Regierung, um ihre Maßnahmen zu rechtfertigen. Erst am Montag vergangener Woche veröffentlichten die Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung und Minderheitenrechte eine gemeinsame Erklärung, in der sie sich über „Menschenfeindlichkeit in sozialen Medien“ und eine „steigende Zahl an Delikten von Hasskriminalität“ besorgt zeigten, was im schlimmsten Fall in extremistischen und terroristischen Anschlägen münden“ würde. Das würde der Demokratie schaden und oft gegen Gruppen bzw. Minderheiten wie „Geflüchtete, gegen Juden und Muslime, gegen Sinti und Roma, Frauen, Menschen mit Behinderungen, gegen queere Menschen und andere“ gerichtet sein. Und so kommen sie zum Schluss: „Das Diskriminierungsverbot in Artikel 3 unseres Grundgesetzes muss geachtet und gelebt werden“. Und wieder einmal wird die Sache auf den Kopf gestellt und die deutsche Bourgeoisie macht sich zum Beschützer seines gewählten Opfers. Denn es sind gerade wichtige Paragraphen aus dem Grundgesetz, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und Vieles, was dem ähnlich kommt, die einmal mehr untergraben werden. Während der Staat immer mehr Kontrolle über die öffentliche Äußerung der Bürger erlangt, fährt er weiter die „demokratische Nummer“ gegen Hassrede.

In Frage der Social-Media-Zensur wurde uns zudem berichtet, dass diese Vorgänge teils in Sekundenschnelle stattfinden würden, was nicht gerade die Kontrolle durch einen Menschen vermuten lässt. In der Tat ist es, wenn auch aufgrund von Geheimhaltung nicht offiziell, sehr offensichtlich, dass die großen Social-Medie-Unternehmen Künstliche Intelligenz – offenbar mit gutem Auge für das, was die Bourgeoisie „Politisch motivierte Kriminalität“ nennt – im Kampf gegen „Desinformation“, oder wie auch immer man feindliche Inhalte bezeichnen möchte, einsetzt.