Wir dokumentieren hier die Stellungnahme von Erhan Aktürk, einem der Angeklagten im TKP/ML Prozess, die Ende letzten Monats auf der Seite zum Prozess veröffentlicht wurde:

26.11.2018 Erklärung Erhan Aktürk

Sehr geehrter Senat,

Ich möchte bezüglich meines Lebenslaufes folgendes erklären.

ich bin am 11.06.1965 in der Kreisstadt Kigi in Kurdistan geboren. Ich entstamme einer kurdischen Familie. Die Grund- und Mittelschule habe ich von 1972 bis 1980 in diesem Landkreis besucht. Mein Vater war in diesem Landkreis als Lehrer tätig. Daher verbrachte ich meine ersten 15 Lebensjahre in Kurdistan im Landkreis Kigi. Die staatliche Repression habe ich in dieser Region, in der ich meine Kindheit verbracht habe, eins zu eins miterlebt, da ich einen beachtlichen Teil meiner Kindheits- und Jugendjahre während der Ausnahmezustands und unter dem Regime des Kriegsrechts verbracht habe. Der Ausnahmezustand stellt in der Republik Türkei keine Ausnahme dar, er ist zu einem Dauerzustand geworden. Von den ersten 64 Jahren der Republik, seit ihrer Gründung, also 1923 bis 1987, wurde die Türkei 26 Jahre lang mit Kriegsrecht unter Militärregimen regiert. Der Ausnahmezustand, der dann im Jahre 1987 verhängt wurde, erstreckte sich über 15 Jahre. Wenn wir den Zeitraum nach dem 15. Juli 2006 dazu addieren, verhält es sich so, dass 43 Jahre der 95 Jahre bestehenden Republik Türkei unter Ausnahmezustandsregimen verbracht wurden.

Demzufolge ist bei Betrachtung der Geschichte erkennbar, dass es in der Türkei – trotz der Versuche, diese als demokratisch zu präsentieren –  niemals mehr als eine Scheindemokratie gegeben hat. Dies gilt sowohl für die Zeit, in der die Verfassung aus dem Jahre 1961 Gültigkeit besaß, als auch für die Zeit der Verfassung, die nach dem 12. September 1982 verabschiedet wurde. Die faschistischen Militärjuntas sind geradezu zum Schicksal der Völker der Türkei geworden.

In diesem Sinne hoffte das türkische Militär stets auf Lücken im bestehenden System, die ihr diese Möglichkeit boten. In der Tradition, den Staat als heilig und unantastbar darzustellen, wurde der Staat von der Gesellschaft abstrahiert und regelrecht als imaginäres Geschöpf betrachtet, so dass mit vorgeschobenen Gründen – wie der öffentlichen Ordnung – die faschistischen Militärregime, die zu der Vernichtung der Freiheiten und Rechte führten, fortbestehen konnten.

Dabei wurde die Maxime des demokratischen Staatsverständnisses “Der Staat ist für die Gesellschaft da” umgedreht und es herrschte das Verständnis “Die Gesellschaft ist für den Staat da.” Die Freiheiten des Individuums, seine fundamentalen und unverzichtbaren Rechte wurden für ein unantastbares Staatsverständnis geopfert.

Aus dieser Sicht betrachtet sind die Angriffe und Massaker, die von der Republik Türkei bis heute begangen werden das Ergebnis dieses oben erläuterten Verständnisses.

Obgleich nur kurz möchte ich auf einige Ereignisse, die sich während meiner Kindheits- und Jugendjahre in dieser Zeit des Ausnahmezustandes und des Kriegsrechts ereignet haben und zur Entstehung meiner politischen Ansichten beigetragen haben, schildern. Ohnehin ist auch der Sachverständige Neumann teilweise auf diese Ereignisse eingegangen.

Auf einer Kundgebung auf dem Taksim-Platz im Jahr 1977, anlässlich derer 500.000 Menschen zusammengekommen waren, um den Ersten Mai zu feiern, verloren 34 Menschen in Folge des eröffneten Feuers ihr Leben. Hunderte wurden verletzt. Ich war zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt. Da wir damals zu Hause keinen Fernseher besaßen, hörte ich mir tagelang im Radio die Nachrichten zu diesem Vorfall an.

Später berichtete die Frau des damaligen Vorsitzenden der DISK (Gewerkschaft der revolutionären Arbeiter), Sabahat Türker, einer Zeitung gegenüber über dieses Massaker wie folgt:

“Ich habe den Angriff mit eigenen Augen gesehen. Es waren zwei, drei Personen. Denn jeder schaute in die Richtung. Ich habe dieses gesehen. Menschen verloren unter den Panzern ihr Leben. Die Zahl der Menschen, die von den Panzern erfasst wurde, war höher als die, die von Schüssen getroffen wurde. Wie aus einem Hackfleischwolf kam aus den Ketten der Panzer Menschenfleisch. Es war ein entsetzlicher Vorfall.”

Ferner erfolgte seitens des damaligen Ministerpräsidenten der CHP, Ecevit, die folgende Erklärung:

“Bereits am ersten Tag sind wir auf Mauern gestoßen. Das heißt, diejenigen, die durch das Eröffnen des Feuers und des Versetzens der Menge in Panik den Tod von mehr als 30 Menschen verursacht haben, sind offenkundig. Das heißt, die Polizei muss diese in jedem Fall gefilmt haben. Gleichwohl konnten wir keinerlei Informationen bekommen.”

Infolge der in Zusammenhang mit dem Vorfall getätigten Ermittlungen wurde jedoch von mehreren Seiten dargelegt, dass der Angriff mit den Spezialkräften der Gladio in der Türkei verübt wurde.

Und ein Jahr später kam es zu dem Massaker am 16. März 1978.

Als linksorientierte Studenten am 16.03.1978 die Universität Istanbul durch den Ausgang, der in Richtung Beyazit Platz führte, verließen, wurde auf diese geschossen und mit einer Handgranate auf sie geworfen. Bei diesem Angriff starben sieben Studenten, mehr als 50 erlitten Verletzungen. Einige Zeit später räumte eine Person namens ZülküfIsot seiner Familie gegenüber ein, dass er die Granate geworfen hatte.

Laut den Erzählungen seiner Schwester, Remziye Akyol habe er berichtet, dass sie mit einem Polizeifahrzeug zur Universität gefahren worden seien, dass die Polizei ihnen geholfen habe, und dass man ihn dazu gebracht habe, die Granate zu werfen. Er habe gesehen, wie die Menschen um Hilfe gerufen und geschrien hätten. Kurze Zeit nach diesem Geständnis wurde ZülkufIsot umgebracht. Sein Mörder war Latif Aktiy, ebenfalls ein ultranationalistischer (Ülkücü) Faschist. Dieser wurde dafür zu acht Jahren Haftstrafe verurteilt. Die grundsätzlich maßgebliche diesbezügliche Erklärung erfolgte von dem Ultranationalisten Ali Yurtaslan. Er berichtete, dass die Granate, die auf die Studenten geworfen wurde, von dem stellvertretenden Vorsitzenden der Idealistenvereine, Abdullah Catli, beschafft wurde. Laut Ali Yurtaslan habe Abdullah Catli über einen Hauptmann im Dienst eine Menge Sprengstoff beschafft und davon einen Teil für den Angriff in Istanbul und den anderen Teil bei anderen  Angriffen in Ankara eingesetzt. Der Name des Konterguerillamitglieds Abullah  Catli wurde somit erstmalig bei diesen Vorfällen öffentlich.

Wiederum im gleichen Jahr kam es in Folge von Aufwiegelungen in Sivas am 03. und 04. September 1978 zu Zusammenstößen zwischen Aleviten und Sunniten. Bereits zu Beginn der Zusammenstöße wurden zwei alevitische Frauen ermordet. Bei diesen zwei Tage andauernden Vorfällen kamen zehn Personen ums Leben und Hunderte wurden verletzt. 351 Gewerbebetriebe und 97 Unterkünfte wurden in Brand gesteckt und zerstört. Der Medienberichterstattung war zu entnehmen, dass die Vorreiter und Anführer der sunnitischen Seite während der Vorfälle folgende Parolen skandiert haben: “Obgleich unser Blut fließt, wird der Sieg dem Islam gehören. NationalistischeTürkei, muslimische Türkei. Tod den Kommunisten. Kommunisten nach Moskau.”

Das zuständige Gericht gelangte in dem später geführten Verfahren zu den folgenden Feststellungen:

“Aufgrund der Aussagen einiger Sicherheitskräfte wurde erkannt, dass externe Gruppierungen nach Sivas gebracht wurden, und dass darunter festgelegte Personen die Gewerbebetriebe, Häuser, Fahrzeuge und Hausnummern der alevitischen Mitbürger mit roter Farbe markiert haben.” (Quelle: Notstandskommandantur, Urteil des 2. Militärgerichts vom 07. Juli 1981, Seiten 50-51).

In diesen Jahren wurden intensive Angriffe gegen Revolutionäre, Sozialisten, Kurden und Aleviten der festgelegten Reihe nach von Stadt zu Stadt fortgesetzt. Nun war Kahramanmaras an der Reihe.

In der zweiten Dezemberwoche des Jahres 1978 war in den Straßen Kahramanmaraş ein hektisches Treiben zu beobachten. Personen, die sich als  Beauftragte der Meldebehörde ausgaben, brachten – hauptsächlich in den von Aleviten bewohnten Stadtvierteln und Bezirken für eine angeblich neue Volkszählung – Markierungen an Häusern an. Die Türen der ausgesuchten Häuser wurden mit roter Farbe bemalt. Der Grund für diesen Plan sollte sich jedoch erste eine Woche später offenbaren.

Am 19. Dezember besetzte eine große Gruppierung faschistischer Ultranationalisten zunächst die CHP Provinzzentrale und die Gebäude der PTT (Türkische Post) und des TÖB-DER (Verband aller Lehrer und Solidaritätsverein). Bei den darauffolgenden Zusammenstößen wurden zwei linksorientierte Lehrer, namentlich Mustafa Yüzbaşoğlu und Naci Calak, von faschistischen Ultranationalisten ermordet.

Am 20. Dezember wurde dann in dem Café Akin, welches von Aleviten besucht wurde, von faschistischen Ultranationalisten eine Bombe gezündet.  Andere staatlich unterstützte Gruppierungen aus den radikal religiösen, fanatischen und fundamentalistisch-nationalistischen Kreisen, die von diesen Vorfällen ermutigt wurden, stürzten sich mit Waffen und Schlagstöcken auf die alevitischen Stadtviertel in Kahramanmaraş. Bei diesen über Tage hinweg andauernden Angriffen und Zusammenstößen kamen 105 Personen ums Leben. 176 weitere wurden schwer verletzt. 210 Häuser und 70 Gewerbebetriebe, die Aleviten gehörten, wurden niedergebrannt und ausgeplündert. Etliche alevitische Frauen wurden von ultranationalistischen Faschisten vergewaltigt.

Augenzeugen berichteten uns, dass während der drei intensivsten Tage, dieser Vorfälle, die sich im Zeitraum 19-26 Dezember ereignet haben, keine einzige staatliche Kraft interveniert habe. Auch der Journalist Mehmet Ali Birand betont in seinem Dokumentarbericht zu dem 12. September diese Tatsache. Der Augenzeuge Mehmet Kaplan berichtete folgendes:

“Ich habe noch nie solche Erscheinungen und Geschöpfe gesehen. Diejenigen, die an der Spitze liefen, waren alle maskiert. Diejenigen, die ihnen folgten, hielten teilweise Äxte und teilweise Schwerter in der Hand und riefen ‘Allah, Allah’ während sie liefen.”

Der MHP-Angehörige Ökkeş Şendiller, der auch persönlich an dem Massaker in Kahramanmaraş beteiligt war und der dafür angeklagt wurde,  sagte in den Jahren nach dem Verfahren, in dem er angeklagt war, aus, dass sie die Angriffe in Kahramanmaras im Wissen des damaligen Kriegsrechtskommandanten General Tayyar vollzogen hätten. Diesbezüglich kann man der Bücherreihe von Yavuz Donat mit dem Titel Aus dem Schaufenster ausführlichere Informationen entnehmen.

Nach den Ereignissen am 28. Dezember 1978 wurde in den Provinzen Istanbul, Ankara, Kahrahmanmaraş, Adana, Elazığ, Bingöl, Erzurum, Erzincan, Gaziantep, Kars, Malatya, Sivas und Şanlıurfa, somit in 13 Provinzen Kriegsrecht ausgerufen.

Noch bevor das bei diesen Angriffen geflossene Blut austrocknete, wurden am 27. Mai 1980 die systematischen Angriffspläne nunmehr in Çorum in Gang gesetzt. Es erfolgten Übergriffe auf die alevitischen und linken Stadtviertel. Bei den ersten Übergriffen kamen vier Menschen ums Leben. Mehr als 100 Häuser und Gewerbetriebe wurden niedergebrannt. Der Groll und der Hass der faschistischen Gruppierungen, die diese gegen Aleviten und Linke hegten, war so tief, dass sie die Wasserschläuche der zum Löschen erschienenen Feuerwehrfahrzeuge durchschnitten, um den Einsatz dieser zu verhindern. Nach diesen Ereignissen lag die Zahl der Toten bei 33. Und viele davon waren durch Folter getötet.

Der beim Vorfall anwesende Sadık Erdal berichtete folgendes

“Sie brachten uns in ein Stadtviertel. In diesem Stadtviertel holten sie uns aus dem Kleinbus. Es waren Männer, Frauen und auch alte Menschen unter uns. Sie haben mit Stöcken, die mit Nägeln präpariert waren, auf uns eingeschlagen. Drei der Personen, die mit mir dort gefoltert worden waren, haben die Folter nicht ausgehalten und sind kurze Zeit später verstorben.”

Der faschistische Ultranationalist Adnan Baran gab in seiner Aussage wiederum Folgendes an:

“Die Unsrigen hatten irgendwoher Waffen beschafft. Offiziere, die sich als Ultranationalisten vorstellten, haben uns Waffen und Sprengstoff gegeben. So konnten wir unsere Angelegenheit erledigen.“

Diese Aufzählung historischer Ereignisse könnte weiter fortgeführt werden. Mit diesen Ereignissen bin ich bis zu meinem 15. Lebensjahr aufgewachsen und ich habe mich, jeweils da, wo ich mich aufhielt, an Protestkundgebungen und Veranstaltungen, die gegen diese Angriffe gerichtet waren, beteiligt.

Am Morgen des 13. September 1980 standen militärische Kräfte der faschistischen Militärjunta erneut vor unserer Tür, unser Haus wurde belagert und überfallen. Zum Zeitpunkt des Überfalls war ich erst 15 Jahre alt. Meine anderen Geschwister waren jünger als ich. Mit dem Betreten des Hauses brachten die Soldaten meine Mutter in ein Zimmer und mich und meine Geschwister in ein anderes Zimmer. Sie stellten uns mit dem Gesicht zur Wand. Dutzende von Soldaten richteten die Gewehrläufe auf uns und wollten, dass wir so stehen bleiben. Im Wohnzimmer sprachen sie mit lauter Stimme und zurechtweisend mit meinem Vater. Ferner durchsuchten sie unser Haus. Danach haben sie meinen Vater festgenommen und mitgenommen. Nach einer Nacht auf der Militärwache in Kigi sperrten sie ihn in das Gefängnis in Elazığ, das als BinsekizyüzEvler (Eintausendundachthundert Häuser) bekannt und für seine Folterungen berüchtigt ist. Die bei dieser Festnahme vorgeschobenen Gründe waren folgende: Die Mitgliedschaft meines Vaters wegen seiner Lehrertätigkeit bei TÖB-DER (Verband aller Lehrer und Solidaritätsvereine) und der Umstand, dass er Linker und Kurde war, führten dazu, dass er als bedenklich eingestuft und vom Militärgericht inhaftiert wurde. In den acht Monaten, die er in diesem Gefängnis verbracht hat, bin ich einmal monatlich mit dem Bus hingefahren und habe ihn besucht. Er wurde dann mit der Maßgabe, dass das Verfahren ohne Untersuchungshaft fortgesetzt wird, entlassen. Allerdings wurde er, gestützt auf das Dekret mit Gesetzeskraft Nummer 1042, vom Beamtendienst suspendiert. Dieser Angriff war allerdings nicht nur gegen uns gerichtet. Der Druck der Militärregierung vom 12. September hat die gesamte Gesellschaft beeinflusst.

Festnahmen, Entlassungen und Vertreibungen, die gegen einen beachtlichen Teil der Gesellschaft gerichtet waren, wurden durchgeführt, als wäre dies ein normaler Vorgang.

Nach dem faschistischen Militärputsch am 12. September 1980 wurden 650.000 Menschen festgenommen. Während der mehrere Monate andauernden Festnahmen erlitten die Menschen schwere Folterungen. 1.683.000 Menschen wurden als Kommunisten, Kurden, Aleviten und Oppositionelle abgestempelt. In den eröffneten 210.000 Verfahren wurde gegen 230.000 Menschen vor den Militärgerichten prozessiert. Für 7000 Menschen wurde die Todesstrafe gefordert. 517 Personen wurden zum Tode verurteilt. Das Militärgerichtshof bestätigte 124 der verhängten Todesstrafen.

Von den zum Tode verurteilten Personen, wurden 50 Personen hingerichtet und damit ihrem Leben ein Ende gesetzt. Die Akten von 259 zum Tode verurteilten Personen wurden an das Parlament übersandt. Gegen 71.500 Personen wurde auf der Grundlage der Paragrafen 141, 142 und 163 des Türkischen Strafgesetzbuches prozessiert. 98.404 Personen wurden wegen des Vorwurfes der Organisationsmitgliedschaft angeklagt. 388.000 Menschen wurde kein Reisepass ausgestellt. 30.000 Menschen wurden, da sie als verdächtige Linke und Kurden betrachtet wurden, aus ihrer Arbeit entlassen.

Gegen 18.525 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes wurden Ermittlungen eingeleitet. 14.000 Personen wurden ausgebürgert. 30.000 Menschen mussten als Flüchtlinge ins Ausland fliehen. 366 Personen haben unter fragwürdigen Umständen ihr Leben verloren. Zur deren Todesursache erfolgten in keinster Weise Nachforschungen. In den Gefängnissen haben 299 Menschen nach schweren Folterungen ihr Leben verloren. Dabei wurde bei 171 Menschen dokumentiert, dass sie aufgrund der schweren Folterungen ihr Leben verloren haben. Bei den Hungerstreiks, die aus Protest gegen den Militärputsch vom 12. September erfolgt sind, verloren 14 Personen ihr Leben. 937 Filme wurden mit der Begründung, sie seien “bedenklich”, verboten. Die Aktivitäten von 23.677 Vereine wurden eingestellt und diese wurden verboten und geschlossen. Dutzende politische Parteien und Gewerkschaften wurden verboten und geschlossen.

3.854 Lehrer, darunter auch mein Vater, 120 Lehrkräfte an den Universitäten und 47 Richter wurden entlassen. Gegen 400 Journalisten wurde eine Gesamtfreiheitsstrafe von 4000 Jahren gefordert. Und die Journalisten wurden zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3.315 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Ein Erscheinungsverbot von 300 Tagen wurde gegen die Zeitungen verhängt. Hunderttausende von Publikationen wurden beschlagnahmt und sie wurden verbrannt und auf dieser Weise vernichtet. Alleine die bei dem Verlag Bilimve Sosyalizm (Wissenschaft und Sozialismus) erschienenen 113.607 Bücher wurden verbrannt und vernichtet. (Quelle: T.R. (Republik Türkei) 10. Gericht für schwere Strafsachen Ankara, Urteilsnummer: 2014/137).

Der faschistische Staat ließ in diesen Jahren in Kurdistan die Dörfer zwangsevakuieren, die Häuser niederbrennen und ausplündern. Der Staat beschlagnahmte mit Gewalt die Erzeugnisse der mittellosen kurdischen Bauern und versuchte damit diese einzuschüchtern und sie zum Ergeben zu zwingen. Und in diesen Jahren, das genaue Datum ist mir nicht erinnerlich, wurden im Heimatdorf meines Vaters fünf Häuser, darunter auch das meines Vaters, von den Soldaten der Republik Türkei niedergebrannt.

Aufgrund der Situation, in der wir uns befanden,  sind wir von Kurdistan nach Istanbul gezogen. Da mein Vater auch dort arbeitslos war, eröffnete er mit Unterstützung von Verwandten ein Café. 1981 begann ich mit dem Gymnasium und in meiner Freizeit half ich bei meinem Vater im Café aus. Mein Freundeskreis in der Schule bestand aus revolutionären und demokratischen Kreisen. Während dieser Zeit war es so, dass ein Teil der Freunde aus der Gruppe und ich für die TKP/ML Sympathien hegten. Deshalb vervielfältigten wir Flugblätter, die wir manchmal in die Hände bekamen, und verteilten diese. Wegen dieser Aktivitäten wurde ich zwei Mal für kurze Zeit in Gewahrsam genommen. Allerdings erlebte ich keinerlei physische Folter. Ich war lediglich den Demütigungen, Beleidigungen und Drohungen der Polizisten ausgesetzt. Jedoch war es so, dass unsere Familie während dieser Jahre massiver staatlicher Repression ausgesetzt war. Mein Vater musste wöchentlich auf der Polizeiwache vorsprechen und es war zur Routine geworden, dass unser Haus alle drei Monate überfallen und durchsucht wurde. Neben dem Umstand, dass diese Situation uns massiv psychisch zusetzte, war es auch so, dass damit auch unsere zukünftigen Lebenspläne ruiniert wurden.

Eines Tages im Jahr 1983 zitierte mich der Rektor des Gymnasiums, das ich besuchte, in sein Zimmer, sagte zu mir: “Geh und suche dir eine andere Schule, an dieser Schule gibt es keinen Platz für dich” und verwies mich von der Schule.

Ab diesem Zeitpunkt begann ich bei meinem Vater zu arbeiten. Da ich keine Schule mehr besuchte, war die Situation so, dass ich 1984 in den Militärdienst eingezogen wurde.

Nach 18 Monaten Militärdienst kehrte ich erneut nach Istanbul zurück. Wegen einiger politischer Aktivitäten, die ich betrieb, wurde ich verfolgt. Daraufhin habe ich 1988 in Duisburg/Deutschland einen Antrag auf politisches Asyl eingereicht. 1990 habe ich mit meiner Frau die Ehe geschlossen. 1993 kam unser Sohn zur Welt. In der Zeit von 1990 bis 1999 habe ich in unterschiedlichen Betrieben gearbeitet. Des Weiteren übte ich ab 1994 eine Nebentätigkeit als Taxifahrer aus. 2003 haben meine Frau und ich uns getrennt. Von 2006 bis 2008 war ich in Frankreich in Haft.

Sehr geehrte Richter/Innen

Neben all diesen Tatsachen möchte ich noch auf zwei Punkte hinweisen.

Erstens, als ich noch in der Türkei lebte, wurde ich für eine kurze Zeit durch die Polizei festgenommen. Wie ich in meiner Erklärung angegeben habe, wurde ich keinen schweren physischen Folterungen unterzogen. Nach dem wir am 15. April 2015 verhaftet worden sind und ich einen Tag nach unserer Verhaftung, dem Gefängnis Nürnberg übergeben wurde, war ich mit der erschwerten psychologischen Folter (auch als weiße Folter genannt) konfrontiert.

Es sah folgendermaßen aus; die Abteilung, in der ich untergebracht wurde, besteht aus einem langen Korridor. Auf diesem Korridor befinden sich 24 Einzelzellen. Aber all diese 24 Zellen wurden wegen mir leergeräumt und sie haben mich in diesem Korridor alleine in einer Zelle eingesperrt. Hier, wo keine Lebewesen waren, habe ich unter sehr schwierigen Bedingungen mehr als 4 Monate unter erschwerter Isolation und Absonderungsbedingungen verbracht. Ich habe eine lange Zeit, nämlich 23 Stunden des Tages in der Isolationshaft, abgesondert von allem in einer Zelle verbracht. Ich hatte am Tag eine Stunde Hofgang. Dieser Hof befand sich auf dem Dach des Gefängnisses. Er war 6 Schritte lang und war von allen Seiten mit einem Stahldraht abgesperrt, nur Vögel setzten sich ab und zu darauf. Ich hatte  eine Stunde am Tag den Hofgang in diesem Käfig, den ich ebenfalls alleine verbringen musste. Ich wurde von allen menschlichen, sozialen Aktivitäten und Kontakten ferngehalten. Ich wurde ca. 5 Monate lang unter diesen Isolationshaftbedingungen gehalten, erst fast am Ende des 5. Monats, wurde ein Gefangener in dem Korridor, wo ich war, in einer Nachbarzelle untergebracht, damit ich mit ihm über das Zellenfenster reden konnte. Ich konnte mich in dem letzten Monat der Isolationshaft mit diesem Mitgefangenen am Tag eine Stunde unterhalten und so die Zeit verbringen. Diese Foltermethode war für mich ein vollständiger Angriff auf meine gesamte Persönlichkeit.

Jetzt an dieser Stelle möchte ich Fragen, auf welcher menschlichen und juristischen Grundlage wurden diese schweren Folterbedingungen angewandt? Diese Situation ist nämlich nicht nur eine juristische Angelegenheit. Es ist auch eine Frage der Ethik und des Gewissens.

Der zweite Punkt betrifft das Rechtshilfeersuchen der Generalbundesanwaltschaft an Frankreich. In diesem Ersuchen ist die Rede davon, dass ich mich in der Vorbereitung einer Aktion befunden habe. Ich war in den Jahren von 2006 bis 2008 in Frankreich in der Haft. Und obwohl ich in diesem genannten Verfahren verurteilt wurde, konnte kein konkreter Beweis darüber vorgelegt werden, dass „ich eine Straftat, oder gar eine Gewalttat in Frankreich vorbereitet habe“. In der gesamten Verfahrensdauer in Frankreich wurde mir konkret solch eine Straftat nicht vorgeworfen. Es wurde auch diesbezüglich gar keine Frage an mich gestellt. Nun obwohl das alles nicht der Fall war, thematisiert die Bundesanwaltschaft dies und verfolgt damit die Absicht, unser Verfahren zu beeinflussen.

Ich bedanke mich dafür, dass sie mir zugehört haben.