Wir veröffentlichen aus gegebenem Anlass zwei Kapitel aus Lenin's Werk "Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen".

 

Wladimir Iljitsch Lenin

Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen

Geschrieben im Februar 1914. Zum ersten Mal veröffentlicht 1914 in der Zeitschrift „Prosweschtschenije" Nr. 4, 5 und 6.


VIII.

Der Utopist Karl Marx und die praktische Rosa Luxemburg

Während sie die Unabhängigkeit Polens für eine „Utopie" erklärt und dies bis zum Überdruss wiederholt, ruft Rosa Luxemburg ironisch aus: Warum nicht die Forderung der Unabhängigkeit Irlands aufstellen?

Offenbar ist es der „praktischen" Rosa Luxemburg unbekannt, wie sich Karl Marx zur Frage der Unabhängigkeit Irlands verhalten hat. Hierbei muss man verweilen, um die Analyse einer konkreten Forderung nach nationaler Unabhängigkeit vom wirklich marxistischen und nicht opportunistischen Standpunkte aus aufzuzeigen.

Marx hatte die Gewohnheit, den ihm bekannten Sozialisten, wie er sich ausdrückte, „auf den Zahn zu fühlen", sie auf ihr Bewusstsein und ihre Überzeugung zu prüfen. Nachdem er Lopatin kennengelernt hatte, schrieb er am 5. Juli 1870 an Engels ein im höchsten Grade schmeichelhaftes Urteil über den jungen russischen Sozialisten, fügte aber hinzu:

„Schwacher Punkt: Polen. Hier spricht er ganz wie ein Engländer – say an English Chartist of the old school" [d. h. ein englischer Chartist der alten Schule] – „von Irland."

Marx befragt einen Sozialisten, der einer Unterdrückernation angehört, nach seiner Stellung zu der unterdrückten Nation und legt sofort den den Sozialisten der herrschenden Nationen (der englischen und der russischen) gemeinsamen Fehler bloß: Unverständnis für ihre sozialistischen Pflichten gegenüber den unterdrückten Nationen, Wiederkäuen der von der „Großmacht"-Bourgeoisie übernommenen Vorurteile.

Ehe wir zu den positiven Erklärungen Marxens über Irland übergehen, muss vorausgeschickt werden, dass sich Marx und Engels zur nationalen Frage im Allgemeinen, streng kritisch verhielten und sie nach ihrer bedingt historischen Bedeutung einschätzten. So schrieb Engels am 23. Mai 1851 an Marx, dass er durch das Studium der Geschichte in der polnischen Frage zu pessimistischen Schlüssen gekommen sei, dass die Bedeutung Polens eine zeitlich begrenzte sei und aufhören werde, wenn Russland in die agrarische Revolution hineingerissen sein wird. Die Rolle der Polen in der Geschichte sei „tapfere, krakeelsüchtige Dummheit".

„Auch nicht ein einziger Moment ist anzugeben, wo Polen, selbst nur gegen Russland, den Fortschritt mit Erfolg repräsentierte oder irgend etwas von historischer Bedeutung tat."

Russland habe viel mehr Elemente der Zivilisation, der Bildung, der Industrie, der Bourgeoisie als das „chevaleresk-bärenhäuternde Polen". „Was ist Warschau und Krakau gegen Petersburg, Moskau, Odessa usw!" Engels glaubt nicht an den Erfolg polnischer Adelsaufstände.

Aber alle diese Gedanken, in denen so viel genialer Scharfsinn steckt, haben Engels und Marx nicht im Geringsten gehindert, zwölf Jahre später, als Russland immer noch schlief, Polen aber in Flammen stand, den tiefsten und glühendsten Anteil an der polnischen Bewegung zu nehmen.

Im Jahre 1864, als er die Inauguraladresse für die Internationale verfasste, schrieb Marx an Engels (am 4. November 1864), dass man gegen den Mazzinischen Nationalismus kämpfen müsse.

„Soweit in der Adresse die International Politics" [internationale Politik] „vorkommt, spreche ich von countries" [Ländern], „nicht von nationalities" [Nationalitäten] „und denunziere Russland, nicht die minores gentium" [die Kleineren, weniger Bedeutenden] – schrieb Marx.

Im Vergleich mit der „Arbeiterfrage" unterlag die untergeordnete Bedeutung der nationalen Frage für Marx keinem Zweifel. Aber von einer Ignorierung der nationalen Bewegung ist seine Theorie himmelweit entfernt.

Es kam das Jahr 1866. Marx schreibt an Engels über die „Proudhon-Clique" in Paris: diese

„erklärt … Nationalitäten für Unsinn, attackiert Bismarck und Garibaldi usw. Als Polemik gegen den Chauvinismus ist ihr Treiben nützlich und erklärlich. Aber als Proudhongläubige (meine hiesigen sehr guten Freunde Lafargue und Longuet gehören auch dazu), die meinen, ganz Europa müsse und werde still auf dem Arsch sitzen, bis die Herren in Frankreich ,La misère et l'ignorance'" [Elend und Unwissenheit] „abgeschafft, … sind sie grotesk." (Brief vom 7. Juni 1866.)

„Gestern – schreibt Marx am 20. Juni 1866 – war im International Council" [Generalrat] „Debatte über die jetzige Kriegssache …Die Diskussion was wound up" [wurde aufgerollt], „wie vorherzusehen, mit der ,question of nationality' [Nationalitätenfrage] überhaupt und der Stellung, die wir dazu einnehmen … Übrigens rückten die (Nichtarbeiter) Repräsentanten der jeune France' " (des jungen Frankreichs] „damit heraus, dass alle Nationalität und Nationen selbst ,des prejuges surannés'" [veraltete Vorurteile] „sind. Proudhonisierter Stirnerianismus … die ganze Welt wartet, bis die Franzosen reif sind, eine soziale Revolution zu machen… Die Engländer lachten sehr, als ich meinen speech" [meine Rede] „damit eröffnete, dass unser Freund Lafargue etc., der die Nationalitäten abgeschafft hat, uns französisch', i. e. in einer Sprache angeredet, die 9/10 des Auditoriums nicht verstand. Ich deutete weiter an, dass gänzlich unbewusst er unter Negation der Nationalitäten ihre Absorption in die französische Musternation zu verstehen scheine."

Die SchlussfoIgerung aus allen, diesen kritischen Bemerkungen Marxens ist klar; die Arbeiterklasse darf sich am allerwenigsten aus der nationalen Frage einen Fetisch machen, denn die Entwicklung des Kapitalismus erweckt nicht unbedingt alle Nationen zu selbständigem Leben. Aber wenn einmal nationale Massenbewegungen entstanden sind, bedeutet die Abwendung von ihnen, die Weigerung, das Fortschrittliche in ihnen zu unterstützen, in Wirklichkeit die Kapitulation vor ,nationalistischen Vorurteilen; vor allem die Anerkennung des Vorurteils, die „eigene" Nation sei eine „Musternation" (oder, fügen wir hinzu, eine Nation, die das ausschließliche Vorrecht auf staatliche Konstituierung besitzt).

Aber kehren war zur irischem Frage zurück.

Marx' Stellung zu dieser Frage kommt am klarsten in den folgenden Briefstellen zum Ausdruck:

„Diese Demonstration der englischen Arbeiter für Fenianism" [Fenianismus] „habe ich auf alle Art zu provozieren gesucht … Ich habe früher Trennung Irlands von England für unmöglich gehalten. Ich halte sie jetzt für unvermeidlich, obgleich nach der Trennung Federation" [Föderation] „kommen mag."

So schrieb Marx im dem Briefe an Engels vom 2. November 1867.

Im Briefe vom 30. November desselben Jahres fügte er hinzu:

„Fragt sich nun, was sollen wir den englischen Arbeitern raten? Nach meiner Ansicht müssen sie Repeal" [Sprengung] „der Union" (Irlands von, England, d. h. die Lostrennung Irlands von England) (kurz den Witz von 1783, nur demokratisiert und den Zeitumständen angepasst) „zu einem Artikel ihres Pronunziamento machen. Es ist dies die einzige legale und daher einzig mögliche Form der irischen Emanzipation, die in das Programm einer englischen Partei aufgenommen werden kann. Die Erfahrung muss später zeigen, ob die bloße Personalunion zwischen den 2 Ländern fort existieren könnte …

Was die Irländer brauchen, ist:

1. Selbstregierung und Unabhängigkeit von England.

2. Agrarische Revolution" …

Marx, der der irischen Frage ungeheure Wichtigkeit zuschrieb, hielt in einem Londoner deutschen Arbeiterverein einen anderthalbstündigen Vortrag über dieses Thema. (Brief vom 17. Dezember 1867.)

Engels erwähnt in seinem Brief vom 20. November 1868 den „Hass gegen die Irländer unter den englischen Arbeitern", aber kaum ein Jahr später (24. Oktober 1869) schreibt er, auf dasselbe Thema zurückkommend:

„Von Irland nach Russland il n'y a qu'un pas" [ist nur ein Schritt] … „An der irischen Geschichte kann man sehen, welch ein Pech es für ein Volk ist, wenn es ein anderes unterjocht hat. Alle englischen Schweinereien haben ihren Ursprung in der irischen Pale". „Die Cromwellsche Zeit muss ich noch ochsen, so viel aber scheint mir gewiss, dass die Sache auch in England eine andere Wendung genommen, wenn nicht in Irland die Notwendigkeit gewesen, militärisch zu herrschen und eine neue Aristokratie zu schaffen."

Erwähnen wir beiläufig auch den Brief von Marx an Engels vom 18. August 1869.

„In Posen – wie Zabieki anzeigte – haben die polnischen Arbeiter {Zimmerleute etc.) siegreich einen strike" [Streik] „beendet durch Hilfe ihrer Berliner Kollegen. Dieser Kampf gegen Monsieur le Capital – selbst in der untergeordneten Form des strike – wird anders mit den nationalen Vorurteilen fertig als die Friedensdeklamationen der Herrn Bourgeois."

Welche Politik in der irischen Frage Marx innerhalb der Internationale verfolgte, ist aus dem Folgenden ersichtlich:

Am 18. November 1869 schrieb Marx an Engels, dass er im Generalrat der Internationale eine Rede von ungefähr fünfviertel Stunden über das Verhalten des britischen Ministeriums zur Frage der Amnestierung der Iren gehalten und dazu die folgende Resolution vorgeschlagen habe:

„Der Generalrat beschließt:

dass Mr. Gladstone in seiner Antwort auf die irischen Forderungen nach Freilassung der eingekerkerten irischen Patrioten … bewusst die irische Nation beleidigt;

dass er die politische Amnestie an Bedingungen knüpft, die in gleicher Weise die Opfer der Missregierung und das Volk, dem sie angehören, herabwürdigen;

dass er, der trotz seiner verantwortlichen Stellung öffentlich und begeistert die Rebellion der amerikanischen Sklavenhalter begrüßte, jetzt beginnt, dem irischen Volk die Lehre des passiven Gehorsam zu predigen;

dass sein ganzes Vorgehen in der irischen Amnestiefrage das wahre und echte Produkt jener Eroberungspolitik ist, durch deren feurige Anprangerung Herr Gladstone seine Tory-Nebenbuhler aus dem Amt trieb;

dass der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation der mutigen, festen und hochherzigen Art, in der das irische Volk seine Amnestiebewegung betreibt, seine Bewunderung ausdrückt;

dass diese Beschlüsse allen Sektionen der Internationalen Arbeiterassoziation und den mit ihr verbundenem Arbeitervereinen in Europa und Amerika mitgeteilt werden sollen."

Am 10. Dezember 1869 schreibt Marx, dass er seine Ausführungen über die irische Frage im Generalrat der Internationale folgendermaßen vorbringen werde:

„ … ganz abgesehen von aller ,internationalen' und „humanen' justice for Irland Phrase" [,Gerechtigkeit für Irland'-Phrase], – „die sich im international Council" [Generalrat des internationalen Arbeiterassoziation] „von selbst versteht, – ist es das direkte absolute Interesse der English Working Class" [englischen Arbeiterklasse], „to get rid of their present connexion with Ireland" [ihren gegenwärtigen Zusammenhang mit Irland loszuwerden]. „Und dies ist meine vollste Überzeugung, und aus Gründen, die ich teilweise den englischen Arbeitern selbst nicht mitteilen kann. Ich habe lange geglaubt, es sei möglich, das irische Regime durch English Working Class ascendancy" [steigenden Einfluss der englischen Arbeiterklasse] „zu stürzen. Ich habe stets diese Ansicht in der New-York Tribüne (amerikanische Zeitung, an der Marx mitarbeitete5) vertreten. Tieferes Studium hat mich nun vom Gegenteil überzeugt. Die English Working Class" [englische Arbeiterklasse] „wird nie was ausrichten, before it has got rid of Ireland" [bevor sie Irland losgeworden ist]. „Der Hebel muss in Irland angelegt werden … die englische Reaktion in England (wie zu Cromwells Zeit) wurzelte in der Unterjochung Irlands." (Sperrungen von Marx.)

Hiernach muss dem Leser die Stellung Marxens zur irischen Frage vollkommen klar sein.

Der „Utopist" Marx ist so „unpraktisch" dass er für die Lostrennung Irlands eintritt, die auch ein halbes Jahrhundert später nicht verwirklicht war. Was hat diese Marxsche Politik hervorgerufen, und war sie nicht ein Fehler?

Anfangs hatte Marx geglaubt, dass nicht die nationale Bewegung der unterdrückten. Nation, sondern die Arbeiterbewegung innerhalb der Unterdrückernation Irland befreien werde. Marx macht aus den nationalen Bewegungen nichts Absolutes, denn er weiß, dass nur der Sieg der Arbeiterklasse volle Befreiung aller Nationalitäten bewirken kann. Alle möglichen Wechselbeziehungen zwischen den bürgerlichen Freiheitsbewegungen der unterdrückten Nationen und der proletarischen Freiheitsbewegung innerhalb der Unterdrückernation im Vorhinein zu berechnen (das ist gerade das Problem, das die nationale Frage im heutigen Russland so schwierig macht), ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Aber die Umstände fügten sich so, dass die englische Arbeiterklasse auf ziemlich lange Zeit unter den Einfluss der Liberalen geriet, ihr Anhängsel wurde und durch eine liberale Arbeiterpolitik sich selbst enthauptete. Die bürgerliche Freiheitsbewegung in Irland erstarkte und nahm revolutionäre Formen an. Marx revidiert seinen Standpunkt und berichtigt ihn. „Welch ein Pech für ein Volk, wenn es ein anderes unterjocht hat." Die englische Arbeiterklasse wird sich nicht befreien, solange Irland nicht von der englischen Unterdrückung befreit sein wird! Die Reaktion in England erstarkt und nährt sich von der Versklavung Irlands (so wie sich die Reaktion in Russland von der Versklavung einer ganzen Reihe von Nationen nährt I).

Marx bringt in der Internationale seine Sympathieresolution für die „irische Nation", das „irische Volk" zur Annahme (der gescheite L. Wl. hätte den armen Marx wahrscheinlich in Grund und Boden verurteilt, weil er den Klassenkampf vergesse!) und propagiert die Lostrennung Irlands von England, „obgleich nach der Trennung Föderation kommen mag".

Welches sind die theoretischen Prämissen dieses Marxschen Schlusses? In England ist die bürgerliche Revolution überhaupt längst beendet. Aber in Irland ist sie noch nicht beendet; sie wird erst jetzt, ein halbes Jahrhundert später, durch die Reformen der englischen Liberalen vollendet. Wäre der Kapitalismus in England so schnell gestürzt worden, wie Marx anfangs erwartete, so wäre in Irland für eine bürgerlich-demokratische, allgemein-nationale Bewegung kein Raum gewesen. Nachdem diese nun aber einmal entstanden war, riet Marx den englischen Arbeitern, sie zu unterstützen, ihr einen revolutionären Anstoß zu geben und sie im Interesse ihrer eigenen Freiheit zu Ende zu führen.

Die ökonomische Verbindung Irlands mit England in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war gewiss noch enger als die Verbindung Russlands mit Polen, der Ukraine usw. Das „Unpraktische" und die „Undurchführbarkeit" der Lostrennung Irlands (schon infolge der geographischen Verhältnisse und infolge der unermesslichen Kolonialmacht Englands) fiel in die Augen. Obwohl grundsätzlicher Gegner des Föderalismus, will Marx doch in diesem Falle sogar einer Föderation zustimmen, wenn nur die Befreiung Irlands nicht auf reformistischem, sondern auf revolutionärem Wege vor sich geht, kraft der Bewegung der Volksmassen in Irland, unterstützt von der englischen Arbeiterklasse. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass nur eine solche Lösung der geschichtlichen Aufgabe für die Interessen des Proletariats und die Schnelligkeit der gesellschaftlichen Entwicklung am günstigen wäre.

Es kam anders. Sowohl das irische Volk als auch das englische Proletariat erwiesen sich als zu schwach. Erst jetzt wird die irische Frage auf Grund eines elenden Kuhhandels der englischen Liberalen mit der irischen Bourgeoisie (und das Beispiel Ulsters zeigt, wie schwerfällig) durch Bodenreform (mit Loskauf) und Autonomie (die immer noch nicht eingeführt ist) gelöst. Was heißt das? Folgt daraus, dass Marx und Engels „Utopisten" waren, dass sie „nicht zu verwirklichende" nationale Forderungen stellten, dass sie dem Einfluss der irischen kleinbürgerlichen Nationalisten unterlagen (der kleinbürgerliche Charakter der Fenierbewegung steht fest) usw.?

Nein. Auch in der irischen Frage verfolgten Marx und Engels eine konsequent proletarische Politik, die die Massen wirklich im Geist der Demokratie und des Sozialismus erzog. Nur diese Politik war geeignet, sowohl Irland als auch England zu erlösen von dem fünfzigjährigen Verschleppen der notwendigen Umgestaltungen und von der Entstellung dieser Umgestaltungen durch die Liberalen zugunsten der Reaktion.

Die Politik von Marx und Engels in der irischen Frage gab das gewaltigste, auch heute noch ungeheure praktische Bedeutung besitzende Musterbeispiel dafür, wie sich das Proletariat der Unterdrückernationen zu irrationalen Bewegungen zu verhalten hat; sie gab eine Warnung vor jener „knechtischen. Eilfertigkeit", mit der die Kleinbürger aller Länder, Farben und Sprachen jede Veränderung der durch die Gewaltpolitik und die Privilegien der Grundherren und der Bourgeoisie einer Nation geschaffenen Staatsgrenzen als „utopisch" bezeichnen.

Wenn das irische und das englische Proletariat sich die Marxsche Politik nicht zu eigen und die Lostrennung Irlands nicht zu ihrer Losung gemacht hätten, so wäre das ihrerseits der schlimmste Opportunismus, eine Vernachlässigung der Aufgaben von Demokraten und Sozialisten und eine Konzession an die englische Reaktion und Bourgeoisie gewesen.


X. Schluss

Ziehen wir das Fazit.

Vom Standpunkte der marxistischen Theorie im Allgemeinen bietet die Frage des Selbstbestimmungsrechts keine Schwierigkeiten. Ernsthaft kann weder von einer Anfechtung der Londoner Resolution von 1896 die Rede sein, noch darüber gestritten werden, dass unter Selbstbestimmung nur das Lostrennungsrecht zu verstehen oder dass die Bildung selbständiger Nationalstaaten eine Tendenz aller bürgerlich-demokratischen Umwälzungen ist.

Schwierigkeiten entstehen bis zu einem gewissen Grade dadurch, dass in Russland das Proletariat der unterdrückten Nationen und das Proletariat der Unterdrückernation Seite an Seite kämpften und kämpfen müssen. Die Einheit des proletarischen Klassenkampfes für den Sozialismus zu wahren, allen bürgerlichen und reaktionären Einflüssen des Nationalismus Widerstand zu leisten – darin besteht die Aufgabe. Bei den unterdrückten Nationen ruft die Absonderung des Proletariats zu einer selbständigen Partei mitunter einen so erbitterten Kampf gegen den Nationalismus der betreffenden Nation hervor, dass sich die Perspektive verzerrt und man den Nationalismus der Unterdrückernationen vergisst.

Aber eine solche Verzerrung der Perspektive ist nur für kurze Zeit möglich. Die Erfahrung des gemeinsamen Kampfes der Proletarier verschiedener Nationen zeigt zu klar, dass wir die politischen Fragen nicht vom „Krakauer" sondern vom gesamtrussischen Gesichtspunkte aus stellen müssen. In der gesamtrussischen Politik aber herrschen die Purischkjewitsch und Kokoschkin. Ihre Ideen herrschen, ihre Hetze gegen die Fremdstämmigen wegen ihres „Separatismus", wegen ihrer Gedanken an die Lostrennung wird in der Duma, in den Schulen, in den Kirchen, in den Kasernen, in Hunderten und Tausenden von Zeitungen propagiert und getrieben. Dieses großrussische Gift des Nationalismus vergiftet die politische Atmosphäre ganz Russlands. Das „Pech" des Volkes, das andere Völker unterjocht, stärkt die Reaktion in ganz Russland. Die Erinnerungen an die Jahre 1849 und 1863 bilden eine lebendige politische Tradition, die, wenn nicht Stürme von sehr großen Dimensionen dazwischen kommen, noch für lange Jahrzehnte jede demokratische und besonders jede sozialdemokratische Bewegung zu erschweren droht.

Wie natürlich auch mitunter der Standpunkt mancher Marxisten aus den unterdrückten Nationen scheinen mag (deren „Pech" mitunter in der Verblendung der Bevölkerungsmassen durch die Ideen „ihrer" nationalen Befreiung besteht), so ist doch zweifellos in Wirklichkeit, infolge der objektiven Klassenverhältnisse in Russland, die Ablehnung der Verfechtung des Selbstbestimmungsrechts gleichbedeutend mit dem schlimmsten Opportunismus, einer Ansteckung des Proletariats durch die Ideen der Kokoschkins. Diese Ideen aber sind im Grunde die Ideen und die Politik der Purischkjewitsch.

Wenn also der Gesichtspunkt Rosa Luxemburgs anfänglich noch als spezifisch polnische, „Krakauer" Beschränktheit der Auffassung entschuldigt werden konnte, so wird heute, wo der Nationalismus, und besonders der großrussische Regierungsnationalismus, überall erstarkt ist, wo er die Politik lenkt, eine solche Beschränktheit der Auffassung einfach unverzeihlich. Tatsächlich klammern sich an sie die Opportunisten aller Nationen, die die Idee der „Stürme" und „Sprünge" fliehen, die bürgerlich-demokratische Umwälzung für beendet erklären und dem Kokoschkinschen Liberalismus nachstreben.

Der großrussische Nationalismus durchläuft wie jeder Nationalismus verschiedene Phasen, je nach der Vorherrschaft dieser oder jener Klassen in einem bürgerlichen Lande. Bis 1905 kannten wir fast nur Nationalreaktionäre. Nach der Revolution kamen: bei uns die Nationalliberalen auf.

Auf diesem Standpunkte stehen bei uns tatsächlich sowohl die Oktobristen als auch die Kadetten (Kokoschkin), d. h. die ganze heutige Bourgeoisie.

Weiter aber wird die Entstehung der großrussischen Nationaldemokraten unvermeidlich. Einer der Gründer der „volkssozialistischen" Partei, Herr Peschechonow, brachte diesen Standpunkt schon zum Ausdruck, als er (im Augustheft des „Russkoje Bogatstwo" für 1906) zur Vorsicht gegenüber den nationalistischen Vorurteilen des Bauern ermahnte. Wie sehr man uns, die Bolschewiki, auch wegen der „Idealisierung" des Bauern verleumdet hat, so haben wir doch immer streng unterschieden und werden unterscheiden zwischen dem bäuerlichen Urteil und dem bäuerlichen Vorurteil, zwischen der demokratischen Haltung der Bauern gegen Purischkjewitsch und dem Bestreben der Bauern, mit den Pfaffen und Gutsbesitzern in Frieden zu leben.

Mit dem Nationalismus der großrussischen Bauern muss die proletarische Demokratie schon jetzt rechnen (nicht im Sinne von Konzessionen sondern im Sinne des Kampfes), und sie wird mit ihm vermutlich noch ziemlich lange zu rechnen haben. Das Erwachen des Nationalismus bei den unterdrückten Nationen, das sich nach 1905 so stark zeigte (wir erinnern nur an die Gruppe der „Föderations-Autonomisten" in der ersten Duma, an das Anwachsen der ukrainischen Bewegung, der muselmanischen Bewegung usw.), wird unvermeidlich ein Erstarken das Nationalismus beim großrussischen Kleinbürgertum in Stadt und Land erzeugen. Je langsamer die demokratische Umgestaltung Russlands vor sich gehen wird, um so hartnäckiger, gröber und erbitterter werden die nationale Hetze und der nationale Zank zwischen den Bourgeoisien der verschiedenen Nationen sein. Der besonders reaktionäre Charakter der russischen Purischkjewitsch wird dabei bei diesen oder jenen unterdrückten Nationen, die manchmal in den Nachbarstaaten weit größere Freiheit genießen, „separatistische" Strömungen hervorrufen (und verstärken).

Diese Lage der Dinge stellt das Proletariat Russlands vor eine zweifache oder, richtiger, zweiseitige Aufgabe: Kampf gegen jeden Nationalismus und in erster Linie gegen den großrussischen Nationalismus; Anerkennung nicht nur der vollen Gleichberechtigung aller Nationen im Allgemeinen sondern auch der Gleichberechtigung für staatliche Konstituierung, d. h. des Rechtes der Nationen auf Selbstbestimmung, auf Lostrennung; und gleichzeitig damit, gerade im Interesse des erfolgreichen Kampfes gegen jeglichen Nationalismus aller Nationen, eintreten für die Einheit des proletarischen Kampfes und der proletarischen Organisationen, für ihre engste Verschmelzung zu einer internationalen Gemeinschaft, den bürgerlichen Bestrebungen nach nationaler Absonderung zum Trotz.

Volle Gleichberechtigung der Nationen; Selbstbestimmungsrecht der Nationen.; Verschmelzung der Arbeiter aller Nationen – dieses nationale Programm lehrt die Arbeiter der Marxismus, lehrt sie die Erfahrung der ganzen Welt und die Erfahrung Russlands.