Wir dokumentieren hier ein Interview aus der Zeitung Gefangenen Info Nr. 387 vom September/Oktober 2014 zur aktuellen Situation in Indien.

Aus Anlass des Aktionstages für die politischen Gefangenen in Indien besuchte eine belgische Genossin der Roten Hilfe International Hamburg, um über ihre Reise und ihre Erfahrungen in Indien zu berichten. Die Redaktion des „Gefangenen Info“ führte aus diesem Grund ein Interview mit ihr.

1. Wie ist die momentane Lage in Indien anlässlich der landesweiten Offensive namens „Green Hunt“?

Die Bezeichnung „Operation Green Hunt“ (Operation grüne Jagd) wurde 2009 für eine umfassende von der Zentralregierung und der Armee geleitete Offensive gewählt, die im Grenzbereich von Chhattisgarh, Jharkhand, Andhra Pradesh und Maharashtra stattfand. Aber die Behörden benutzten diesen Begriff sehr schnell nicht weiter, als klar wurde, dass der Konflikt den Charakter eines „langen Engagements mit offenem Ende“ annahm anstatt einer kurzen kraftvollen Operation. Die Bezeichnung wird nunmehr hauptsächlich von den Medien und Solidaritätsorganisationen benutzt. Die Offensive dauert nun mehr als fünf Jahre an. Es gibt wenig Klarheit über das Ausmaß des Truppenaufmarsches, die Zusammensetzung der eingesetzten Streitkräfte und die Befehlskette zwischen den zentralen paramilitärischen Einheiten sowie der Staatspolizei. Jede Woche kann man in den bürgerlichen Medien lesen, dass weitere Truppen in die „Rote Zone“ entsandt wurden, diese Zone im Osten Indiens, wo Maoisten es geschafft haben, einige Gebiete unter ihre Kontrolle zu bekommen. Seit Beginn dieser Offensive hat sich die Situation jeden Tag verschlimmert. Das gilt hauptsächlich für die Bevölkerung in den betroffenen Regionen. Die Bezirksregierungen benutzen die Offensive als Vorwand, um Dörfer anzugreifen und deren Land unter die Kontrolle der großen Konzerne zu bekommen. Beim „roten Korridor“ handelt es sich um eine sehr reiche Region; entsprechend interessiert sind die multinationalen Konzerne daran, neue Betriebe zur Ausplünderung des Landes zu errichten. Entsprechend ihrer neuen ökonomischen Politik arbeitet die Regierung für die Interessen dieser Konzerne, was für tausende Einheimische und die armen Bauern Umsiedlungen und Ausplünderung bedeutet. Die Taktik der Regierung ist sehr einfach: entweder stimmen die Leute zu, ihr Land „freiwillig“ zu verlassen, oder sie werden beschuldigt, „Verbindungen zu den Maoisten“ zu haben und verhaftet. In beiden Fällen wird das Land frei und die ausländischen Kapitalisten können ihre Geschäftstätigkeit beginnen.  Ich würde sagen, dass die Lage schlimmer ist als zu Beginn. Die Offensive weitet sich mit der Zeit auf neue Gebiete aus. Unglücklicherweise ist es von Europa aus sehr schwer an Informationen zu gelangen, die nicht von den Massenmedien stammen Die Repression,
der die Militanten ausgesetzt sind, macht es ihnen oft unmöglich, die Nachrichten aus dem Dschungel von den wirklichen Ereignissen zu verbreiten. Darum ist es sehr schwierig, auf diese Frage eine korrekte Antwort zu geben. Sicher ist, dass die Offensive fortgesetzt wird, dass sie jeden Tag härter und gewalttätiger wird und die Truppen mehr und mehr High-Tech-Waffen benutzen, die u. a. aus Israel und den USA kommen.

2. Dieses Jahr bildete sich eine neue Regierung. Hat sich dadurch die Situation für die indische Bevölkerung noch weiter verschärft?

Ich kann darauf keine angemessene Antwort geben. Tatsache ist, dass die BJP an der Macht ist. Diese Partei bezieht sich auf die Hindutva (Ausrichtung Indiens nach hinduistischen Regeln) und ihrePolitik vertritt Hindu-Nationalismus. Sie verfolgt eine strikte neoliberale Agenda, die sich auf alle Bereiche der Wirtschaftspolitik erstreckt. In den verschiedenen Teilstaaten, in denen sie an der Macht war, während  die Kongress-Partei die Zentralregierung stellte, bestand ihre Politik in ausgedehnter Privatisierung von Infrastruktur und Dienstleistungssektor sowie einem starken Abbau von Arbeits- und Umweltschutzbestimmungen – alles zum Nachteil der Armen.
Die Bharatiya Janata Partei verfolgte stets eine aggressive nationalistische Haltung in der Verteidigungspolitik und im Kampf gegen den Terrorismus. Die Partei wurde schon lange als der politische Arm der RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh) angesehen, einer Organisation von Hindu-Nationalisten, deren vorrangiges Ziel die Erhaltung und der Schutz von Indiens kultureller Identität ist. Der neue Ministerpräsident, Narenda Modi, ist Mitglied der RSS. Zwischen 2001 und 2014 war er Regierungschef von Gujarat. Während seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident kam es 2002 zu den Unruhen in Gujarat. Ein Brand in einem Zug mit Hindu-Pilgern wird als Ursache von dreitägigen Gewalttätigkeiten zwischen Hindus und Moslems gesehen. Diesen Ereignissen folgten dreiwöchige weitere Gewaltausbrüche in Ahmedabad. Landesweit kam es zu Massenmorden an der moslemischen Minderheit während drei Monaten. Narenda Modi wurde vorgeworfen, die Gewalt initiiert und gerechtfertigt zu haben und gleichfalls Polizei- und Regierungs-Offiziellen, die angeblich die Aufrührer leiteten und ihnen Listen von Häusern von Muslimen gaben. Modi wurde vom Vorwurf der Komplizenschaft mit den Gewalttätern reingewaschen. Seit seiner Machtübernahme sind die sozialen Medien ein gefährlicher Ort für Widerspruch und Respektlosigkeit geworden. Die Behörden haben großen Eifer gezeigt darin, jeden zu verhaften, zu tyranisieren und oft zu terrorisieren, der auch nur ein wenig kritisch sich im Netz gegenüber Modi geäußert hat. Im Juni postete ein Schiffsmechaniker einen Kommentar bei Facebook, der als Modi-kritisch angesehen wurde. Obwohl er ihn später löschte, ordnete ein Gericht seine Verhaftung an und verweigerte eine Freilassung auf Kaution. Einen Monat später wurde in Bangalore ein Student verhaftet wegen angeblich Modi beleidigenden Postings bei Whatsapp. Und ebenfalls im Juni eröffnete die Polizei in Kerala zwei getrennte Verfahren gegen 18 Studenten und Lehrer wegen Verleumdung von Modi in der jeweiligen Uni-Zeitung. Ich erwähne diese Beispiele nur, um eine Vorstellung vom Kurs der neuen Regierung zu vermitteln. Die Liste von Maßnahmen gegen alle Formen der Wahrnehmung von Freiheitsrechten, politischen Aktivitäten und Positionierungen ist viel länger.

3. Gibt es Neuigkeiten zu den Gefangenen Soni Sori und Sushil Roy, die beide haftunfähig sind?

Sushil Roy verstarb im Juni mit 78 Jahren. Roy wurde 2005 verhaftet. Ihm wurde in mehreren Fällen Gewalttätigkeit , Brandstiftungund Mord in Jharkhand, West Bengalen und Odisha vorgeworfen. Er wurde zunächst im Gefängnis des Präsidenten festgehaltenund später auf Kaution freigelassen.
Im gleichen Jahr wurde er von der Polizei in Jharkhand wieder festgenommen und nach Ranchi verbracht. Da er sehr krank war, wurde er ins MIIMS (All India Institute of Medical Sciences) in Dehli verlegt, um eine angemessene Behandlung zu bekommen, die es im Gefängnis nicht gab. Schließlich wurde er 2012 auf Kaution entlassen als sich seine körperliche Situation verschlechtert hatte. Er verstarb schließlich im AIIMS, das ihn aufnahm, weil sich seine Gesundheit verschlechtert hatte. Er wurde 78 Jahre alt. Soni Sori wurde auf Kaution im November 2013 entlassen unter der Bedingung, dass sie Chhattisgarh nicht aufsuchte und sich wöchentlich bei der Polizei in Dehli meldete. Sie war am 4. Oktober 2011 verhaftet worden und ihr wurde vorgeworfen, mit den Maoisten in Verbindung zu stehen, an Guerillaaktionen teilzunehmen etc. Es gab gegen sie acht Verfahren u. a. wegen Erpressung, krimineller Verschwörung und ungesetzlichen Aktivitäten. Während der ersten Tage ihrer Gefangenschaft Anfang Oktober 2011 wurde sie Opfer von sexueller Aggression und Folter. Sie berichtete ihrem Anwalt, dass sie sich bei Verhören nackt ausziehen musste und mit Elektroschocks gefoltert wurde. Sie berichtete weiter, dass sie nackt auf einem Stuhl sitzend vom Polizeiinspektor erniedrigt wurde, welcher schließlich drei seiner Leute herein rief, um sie sexuell zu foltern. Sie wurde anschließend ins Krankenhaus von Kolkata gebracht, wo Ärzte Steine aus Vagina und Darm entfernen mussten. Im April 2013 verurteilte sie ein Gericht in sechs Anklagepunkten, ohne den geringsten Beweis zu haben. Nach ihrer Freilassung schloss sie sich der Partei Aam Aadmi an, weil sie sich für freie Wahlen und einen Systemwechsel einsetzen wollte. Sie wurde von der Partei zur Kandidatin für den Stadtrat von Bastar aufgestellt, doch sie gewann nur 2,1% der Stimmen.

4. Wie reagiert die indische Regierung auf die zunehmende internationale Solidarität für die indischen Inhaftierten u. a. aus Europa?

Ich würde sagen, dass die indische Regierung immer mehr beunruhigt ist. Im November 2013 lud sie verschiedene europäische Außenminister ein, um ihnen von den „Gewalttätigkeiten der Maoisten“ zu berichten. Während des Treffens präsentierten die indischen Behörden Statistiken und Ergebnisse der Aktionen der Guerilla seit 2001. Sie forderten alle europäischen Länder dazu auf, sicherzustellen, dass die Maoisten keinerlei Unterstützung von europäischen Organisationen erhielten. Diesem Treffen folgte alsbald eine Erklärung der CPI(m), in der sie sich bei dutzenden von Organisationen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, Holland, Schweden, Italien, Norwegen, Spanien, England, Brasilien, Kanada und den Phillipinen bedankte für ihre Teilnahme an der Konferenz in Hamburg am 24. November 2012.

5. Kannst Du was zur Intention des Aktionstag für die politischen Gefangenen am 15. August sagen?

Das wichtigste Ziel des Internationalen Aktionstages ist es, in Europa die Situation der politischen Gefangenen in Indien bekannt zu machen. Es ist eine Tatsache, dass immer mehr Menschen von den Behörden angegriffen werden und auf Grund drakonischer Gesetze ins Gefängnis geworfen werden. Heute gibt es mehr als 10.000 politische Gefangene in 200 Gefängnissen in Indien. Grundlage der Initiative ist die Forderung „Freiheit für alle Kämpfer des Volkskrieges“, doch in einem weiteren Sinne sollten wir uns für alle Menschen einsetzen, die Opfer der Polizei, der Sicherheitskräfte und der Armee wurden, wegen Nichts ins Gefängnis verschleppt wurden, im Bestreben ihr Land und ihr Leben zu retten.