Im Folgenden dokumentieren wir die Übersetzung einer Analyse der vergangenen türkischen Wahlen.
Die Gewinner der türkischen Parlamentswahlen: Demokratische Illusionen
Die Parlamentswahlen in der Türkei vom 7. Juni brachten einen herben Rückschlag für die Bemühungen von Präsident Recep Tayyip Erdogan, die Herrschaft seiner sich seit 2002 im Aufwind befindenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) weiter zu festigen. Er hatte gehofft, dass die Wahlen ihm eine noch größere Mehrheit und weitere Legitimität verschaffen würden, oder, in anderen Worten, ein Mandat, um eine Verfassungsreform durchzubringen, inklusive eines rechtlichen Rahmens für die Ersetzung des bestehenden parlamentarischen Systems durch ein Präsidialsystem. Letzteres würde seine Macht beträchtlich vergrößern und die Islamisierung des öffentlichen Lebens weiter vorantreiben. Diese Pläne wurden gründlich durcheinandergebracht, als die HDP (Demokratische Partei der Völker) insbesondere in Kurdistan Wählerstimmen von ehemaligen AKP-Anhängern gewann und ins Parlament einzog.
Die HDP hat sich sowohl als die Hauptopposition gegen Erdogans Machtbestrebungen, als auch als die stärkste Stimme für die Wiederaufnahme der Friedensgespräche zwischen der PKK (Kurdische Arbeiterpartei) und der Regierung in Stellung gebracht. Indem sie die linken Parteien und Organisationen im westlichen (nicht-kurdischen) Teil der Türkei um sich sammelte, hat sich die HDP von einer Pro-PKK-Partei in eine Dachorganisation verwandelt, die beansprucht, „die Ausgeschlossenen“ gegen die autoritäre AKP zu vertreten – alle oppositionellen Identitäten und alle Kräfte einer wirklichen „Demokratisierung“ des politischen Systems.
Jetzt hat keine Partei eine parlamentarische Mehrheit für eine Regierungsbildung. Eine Koalition scheint nötig, um dieses Problem zu lösen. Aber Erdogan weicht nicht zurück. Er beschuldigt seine Gegner, diese potentielle Krise heraufbeschworen zu haben und ruft sie dazu auf, für die Sicherung der politischen Stabilität Verantwortung zu übernehmen. Dieser Appell richtet sich zwar an alle Parteien, gemeint ist aber in erster Linie die HDP. Der Vizepremierminister bringt dies bereits zum Ausdruck, indem er warnt: „Das Wort Honig im Mund zu führen macht euren Mund nicht süß und das Wort Frieden zu wiederholen bringt keinen Frieden.“ Jetzt, wo die HDP 13 Prozent der Wählerstimmen und 80 Sitze im Parlament habe, „sollte sie Imralı (die Gefängnisinsel, auf der Abdullah Öcalan festgehalten wird) und Kandil (das militärische Hauptquartier der PKK in den Bergen) dazu aufrufen, ihre Waffen niederzulegen.“ Das hängt die Latte für die Friedensgespräche höher, indem als Vorbedingung für eine Fortsetzung dieses Prozesses die Entwaffnung der PKK verlangt wird. Die HDP wird dafür verantwortlich gemacht, sicherzustellen, dass dies geschieht. Es wird ihr gesagt, dass sie, wenn es ihr erlaubt werde, im Parlament zu agieren, als Repräsentantin der Interessen des türkischen Staates handeln müsse. Und den rivalisierenden Parteien wird gesagt, dass nur die AKP in der Lage sei, den Friedensprozess zu leiten. Als Antwort auf die Kritik, Erdogan sei von persönlichem Ehrgeiz getrieben und verhandle mit „Terroristen“ – so die Denunziation der Ultra-Nationalisten – ruft er seine Rivalen dazu auf, im höheren Staatsinteresse die Reihen hinter ihm zu schließen.
Ungeachtet der Euphorie unter den HDP-Anhängern und anderen oppositionellen Kräften nach Erdogans Wahlschlappe sind dies die Regeln, nach denen die Grabenkämpfe innerhalb der herrschenden Klasse und ihrer Vertreter ausgetragen werden, und die HDP wird gezwungen sein, ihre Rolle innerhalb dieser zu spielen.
Die türkische herrschende Klasse spielt deutlich auf Öcalans Verteidigung im Prozess nach seiner Festnahme im Jahre 1999 an. Dieser argumentierte damals, dass es – rückblickend betrachtet – ein Fehler gewesen sei, zu den Waffen gegriffen zu haben. Die Kurden seien jedoch dazu gezwungen gewesen, da man ihnen ihre nationale Identität bestritt und sie sich für ihre Sache aussprechen und sich Gehör verschaffen mussten. Jetzt sagt ein seit dem Vorabend der Wahlen wachsender Chor: „Keine Ausflüchte mehr. Jetzt habt ihr Gehör gefunden. Jetzt müsst ihr euch von den Terroristen in den Bergen distanzieren.“ Das ist die hinterlistige Kehrseite der Bezeichnung „kurdischer Obama“, die man dem HDP-Führer Selahattin Demirtaş gegeben hat. Die AKP und andere sagen, dass nun – nachdem die Kurden mit Demokratie beschenkt wurden und einen Platz im türkischen Parlament erhielten – die HDP die ganze kurdische Bevölkerung vertreten müsste und damit meinen sie die aufstrebende kapitalistische Klasse Kurdistans sowie die Interessen und Belange der großen Tiere in der dortigen Politik, die bisher die AKP unterstützten. Es geht darum, den kurdischen Widerstand in „den Mainstream“ zu integrieren, also in die bestehende reaktionäre politische Ordnung.
All dies wird den Leuten schmackhaft gemacht, indem man es als den „Sieg der Demokratie“ ausgibt, als Ausdruck des durch den Wahlprozess geäußerten Willens der Massen in Kurdistan und dem Rest der Türkei. Tatsächlich geht es jedoch um mehr als die Forderung an die kurdischen Kräfte, definitiv zu kapitulieren und sich in den Staat integrieren zu lassen. Es ist auch Teil eines landesweiten Bemühens, unterschiedliche Erscheinungen des Widerstands gegen die wirtschaftliche, soziale und politische Ordnung einzudämmen und in den Griff zu bekommen. Dieser Widerstand zeigte sich etwa in den Gezipark-Protesten, die sich im Juni 2013 wie ein Flächenbrand von Istanbul auf andere große Städte ausbreiteten. Dieselbe potentielle Explosivität konnte man auch bei den wütenden Reaktionen auf den Tod der Bergarbeiter in Soma 2014 beobachten oder bei der wachsenden Empörung und dem Kampf von Frauen gegen die traditionellen patriarchalen Verhältnisse und gegen die Gewalt an Frauen, wie etwa einer Welle von Morden im Kontext der zunehmenden Islamisierung der Gesellschaft. Die AKP griff zu gewaltsamer Repression, war aber mit ernsthaften Schwierigkeiten konfrontiert. Die HDP – die behauptet, dass sie etwa durch ihre Politik, dass 50% ihrer Abgeordneten Frauen und 10% LGBTI (Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle) sein müssen, zur Vertreterin aller Unterdrückten und Ausgeschlossenen wird – trägt jetzt zur Einkreisung und Zähmung des Protests bei, bringt potentielle Kräfte der Revolte wieder auf Linie und macht die Leute glauben, dass dieses System dazu gebracht werden könne, seine unlösbaren Widersprüche abzumildern.
Des Weiteren beteiligen sich zahlreiche Kräfte, die sich selbst als Revolutionäre und sogar als Kommunisten verstehen, an diesem Prozess, da sie überzeugt sind, dass der Umsturz und die radikale Transformation des Systems unmöglich seien und sie durch die Aussicht, einen Platz innerhalb dieses Systems einzunehmen und die Möglichkeit einiger Reformen geködert wurden. Ironischerweise rechtfertigen sie ihren gewissenlosen Kurs theoretisch, indem sie behaupten, die Türkei sei faschistisch und ihr Einzug ins Parlament sei ein Sieg für die Demokratie – während in Wahrheit die Verbreitung von Illusionen über die bürgerliche Demokratie für die Herrschenden ebenso wichtig ist wie offen gewaltsame Mittel zum Schutz ihrer Klassendiktatur.
Der Jubel in den Straßen von Diyarbakır und auf den Plätzen anderer kurdischer Städte über den Wahlerfolg der HDP war deutlich widersprüchlich. Zum einen die Freude darüber, einige der vom System gesetzten Schranken überwinden zu können – etwa die Sperrklausel, die es nur Parteien mit landesweit mindestens 10% der Wählerstimmen erlaubt, ins Parlament einzuziehen – eine Regelung, die eingeführt worden war, um die kurdischen Parteien draußen zu halten. Gleichzeitig werden Leute, die hassen, was dieses System ihnen und anderen antut, durch dessen Horizont beschränkt. Beispielsweise schwenkten tausende Menschen die Flagge des türkischen Staates und Porträts seines Gründers Atatürk, der die kurdische Rebellion brutal unterdrückte, zusammen mit Porträts von Öcalan und raubten so dem kurdischen Kampf sein revolutionäres und emanzipatorisches Potential.
Was diese reformistischen Bemühungen noch realitätsferner macht, ist die ihnen zugrunde liegende Annahme, die türkische Gesellschaft könne vor dem Zusammenstoß von westlichem Imperialismus und islamischem Fundamentalismus geschützt werden – ein Kampf, der in der gesamten Region tobt, der bis unmittelbar an die Landesgrenzen reicht und in dem Widersprüche zum Ausdruck kommen, die sicherlich auch die Türkei selbst durchziehen. Viele politischen Berater und Sprecher des westlichen Imperialismus verstehen dies weitaus besser. Diese haben Erdogans Schlappe bei den Wahlen einhellig begrüßt und viele forderten sogar die HDP auf, ins Parlament einzuziehen, noch bevor die Wahlen dies zum „Willen des Volkes“ machten.
Während Erdogan einen florierenden türkischen Kapitalismus repräsentiert und fördert, der sich dem imperialistischen System unterordnet, sind seine islamistischen Bestrebungen und sein Anspruch, sich an die Spitze einer wiedererstarkenden muslimischen Welt zu stellen, problematisch für die USA. Auch versuchen islamistische Kräfte, deren Aufstieg durch die Entwicklung des Kapitalismus selbst geschürt wird, ihren Anspruch auf einen gebührenden Platz innerhalb des globalen Ausbeutungssystems zu legitimieren und mobilisieren unter ihrer Führung Leute, die sich im Konflikt mit den politischen und ideologischen Modellen befinden, die vom Westen auferlegt wurden. Erdogan ist gezwungen, islamistische Kräfte überall in Nordafrika und dem Nahen Osten, darunter Syrien, zu unterstützen, weil seine Legitimität, der ideologische Zusammenhalt seiner Bewegung und die politische Stärke seines Regimes davon abhängen. Erdogan mag nicht die Taliban, Bin Laden oder der Islamische Staat sein, aber sein Projekt ist sowohl ein Produkt als auch ein Akteur des Zusammenstoßes dieser beiden „Auslaufmodelle“ (westlicher Imperialismus und islamischer Fundamentalismus) in der Region und weltweit. Dieser Konflikt bringt Kräfte und Tendenzen hervor, die nicht kontrolliert werden können. Beispielsweise konnte es Erdogan nicht vermeiden, kurdische Wähler gegen sich aufzubringen, indem er sich weigerte, den kurdischen Kräften zu helfen, die im nordsyrischen Kobane gegen den IS kämpften. Unvermeidlich geriet er in Konflikt mit den US-amerikanischen Plänen und Bemühungen in der Region. Diese sich zuspitzende Polarisierung zwischen Imperialismus und islamischem Fundamentalismus bringt neue Allianzen in den kurdischen Städten in der Türkei und überall im Land hervor. Erdogans Politik wird oft fälschlicher Weise auf einen bloßen Ausdruck persönlichen Machtstrebens reduziert – etwa seine Bemühungen, die Befugnisse des Präsidenten zu vergrößern oder die Unabhängigkeit der Justiz zu beschneiden. Sie spiegelt aber dieselbe Polarisierung und deren Notwendigkeiten wider. Diese Widersprüche können ebenso wenig wie all die anderen Verwerfungen in der Türkei durch Wahlen gelöst werden. Die Frage als einen Kampf zwischen „liberaler, pluralistischer Demokratie“ und „Autoritarismus“ darzustellen, übersieht die tatsächlichen Kräfte, die hier im Spiel sind und lenkt die Leute in eine Falle.
Der Schatten der USA droht hier mindestens genauso stark wie der des islamischen Fundamentalismus. Die PKK, die HDP und der Großteil der türkischen Linken sahen mit Wohlwollen auf die kriminelle Rolle der USA in dem Krieg, der Syrien auseinanderriss, inklusive ihrer Luftangriffe. Was immer die Vereinigten Staaten in Kobane oder irgendwo anders machen, ist Teil ihres Kampfes um die Bewahrung und Ausweitung ihrer Vorherrschaft. Der positiven Bewertung oder sogar der Lobpreisung der USA in Bezug auf Kobane folgt nun eine noch haarsträubendere Kapitulation – die Leute akzeptieren Aussagen wie „die Linke sollte ein paar Dinge vom Imperialismus lernen, anstatt ihn rundweg abzulehnen“. Der lange Kampf gegen nationale Unterdrückung in Kurdistan wird von Bemühungen vereinnahmt, den türkischen Staat zu modernisieren und zu stärken – einem Staat, der vollkommen mit dem Imperialismus verbunden ist und sogar der Nummer eins unter den unterdrückenden Mächten auf der Welt dient, den USA. Umgekehrt nutzt Erdogan das, um sein Regime und seine ideologische Ausstrahlungskraft zu stärken, indem er sich als Opfer einer ausländischen „Verschwörung“ stilisiert.
Neben der extrem tragischen Tatsache, dass so viele Leute in die Arme der einen oder der anderen der verstaubten Kräfte getrieben werden, gibt es eine weitere Tragödie: Sie besteht darin, dass einige nicht nur davon träumen, zwischen beiden Auslaufmodellen zu vermitteln, sondern dies zur Grundlage eines politischen Programms machen und sich bemühen, ihre eigene Blindheit Millionen anderer aufzuerlegen, darunter denjenigen, die gerade zum politischen Leben und Kampf erwachen und einen Weg in eine andere Welt suchen. Doch welche praktische Alternative gibt es tatsächlich zum imperialistischen und fundamentalistischen Massenmord und mörderischen Ideologien – außer dem revolutionären Umsturz der gesamten sozialen Ordnung und der völligen Umgestaltung der Gesellschaft und letztendlich der Welt? Jedoch sind dieselben Widersprüche auch die mögliche Grundlage für eine andere Lösung, wenn Leute mit einem wirklich wissenschaftlichen, kommunistischen Verständnis des Problems und seiner Lösung daran arbeiten, die Kämpfe um die grundlegenden, brennenden Widersprüche in der Gesellschaft zu transformieren und die Leute sie in Ströme führen, die in einer Bewegung zusammenlaufen, die tatsächlich eine Revolution machen kann.