Im folgenden veröffentlichen wir einen weiteren Artikel aus dem „Vorbote – Für Weg und Ziel der revolutionären Bewegung“, einem kommunistischen Theorieorgan aus Österreich. Im Zuge des 100. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 2017 haben nicht nur die Revolutionäre und Kommunisten rund um die Welt ihre Kräfte auf dieses große Ereignis gerichtet, auch die unterschiedlichsten Ausprägungen von Reformismus und Revisionismus haben den Jahrestag dazu benutzt ihre „heute Sicht vom Leninismus“ zu verbreiten, um diesen zu entstellen und ihn in ein für die Bourgeoisie annehmbares liberales Weltbild zu pressen. Folgender Artikel ist eine Kritik an „Lenin neu entdecken“ von Michael Brie. Wir können diesen Artikel sehr empfehlen und denken er ist ein gutes Werkzeug im Kampf gegen die unterschieldichsten Angriffe auf die Lehren des großen Lenins.

An alle Leserinnen und Leser die der Redaktion des "Vorboten" ihre Meinungen, Kritik oder Lob zukommen lassen wollen, bitte sendet diese an uns und wir werden sie einstweilen gerne weiterleiten.

Eure DemVolkeDienen Redaktion.

(Quelle: Vorbote, April/Mai 2018)


Des Herrn Bries Entdeckungsreise ins liberale Traumland.

Michael Brie: Lenin neu entdecken. Das hellblaue Bändchen zur Dialektik der Revolution & Metaphysik der Herrschaft. VSA, 2017

Es war zu erwarten, dass zu Ende des Jahres 2017 als dem 100. Jahr der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution allerlei bürgerliche aber auch revolutionäre Publikationen zum Thema erscheinen – ernsthafte und weniger ernsthafte, schlichter Blödsinn, aber auch Empfehlenswertes. Wenngleich Michael Bries „Lenin neu entdecken“ nicht einfach „schlichter Blödsinn“ ist und durchaus auf höherem Niveau steht als beispielsweise ein GEO-Epoche Heftchen (wobei, wir geben zu, dafür braucht es nicht viel), so ist es doch alles andere als empfehlenswert. Da nun mal aber in Wien und Salzburg Buchpräsentationen zu diesem „hellblauen Bändchen“ abgehalten wurden, erschien es uns doch angemessen, die 12,40 Euro aufzuwenden und genauer hineinzulesen. Warum wir nach der Lektüre sehr wenig von Michael Bries „Werk“ halten, wollen wir nachstehend etwas genauer darlegen.

Grundsätzlich mag dem Herrn Brie einiges an seinem Buch vorzuwerfen sein, man kann ihm aber nicht unter die Nase reiben, dass er als ehemaliger Kader der DDR-Staatspartei SED den Unterricht in Lenin-Werken geschwänzt hat. Vielleicht aber doch, und er hat einfach nur den Registerband von Lenins Werken sehr brav zu benutzen gelernt und manche seiner Leser somit an der Nase herumgeführt, auch das wäre nicht ungewöhnlich und der Herr Brie ist natürlich nicht der einzige, der das könnte. Ist aber eigentlich auch egal. Festzustellen ist, dass Brie eine Unmenge Zitate Lenins ins Treffen führt. Das ist auch notwendig, denn es geht ja, verrät uns schon der Titel des Buchs, um nichts weniger als um das bescheidene Anliegen die Lehren des Anführers der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution „neu zu entdecken“ - und das macht auch ein Herr Brie nicht einfach im Vorbeigehen. Verständlich.

Bei seinem Anliegen geht Michael Brie überaus strukturiert vor. Das Grundgerüst seiner gesamten Argumentation bilden viele wohlgeordnete und -eingesetzte Originalzitate Lenins. Doch dabei kann er es natürlich nicht belassen, denn Lenin-Werke kennt man, und Registerbände lassen sich relativ einfach bedienen, das ist noch keine „Neuentdeckung“ und reißt daher auch niemanden vom Hocker. Deshalb sucht Brie Leute, die ihm bei seiner „Neuentdeckung“ helfen. Bei der Wahl seiner Mannschaft ist er dabei nicht zimperlich. Man muss sich das wohl so vorstellen, wie beim Anwerben einer Schiffscrew für eine der zahlreichen Entdeckungsreisen der frühen Neuzeit, bei denen auch oft niemand so genau wusste, wo die Reise eigentlich hingeht – doch wenn man Kapitän Brie gefällt, ist man schon mit an Bord. So finden sich altbackene Antikommunisten wie Alexander Solschenizyn, oder Pop-Antikommunisten wie Slavoj Zizek ebenso an Bord des irrlichternden Brie‘schen Entdeckungsschiffes, wie der Moralist Ernst Bloch oder der Sozialdemokrat Karl Polanyi. Wie es heutzutage bei allen „Neuentdeckungen“ die den Marxismus betreffen so üblich ist, sind natürlich auch Rosa Luxemburg und, mit einem gar kurzen Intermezzo, Antonio Gramsci dabei. Beide erfüllen für Kapitän Brie aber nur den Zweck der Seelsorger an Bord des Schiffes, sind also dabei, damit es mit der restlichen Mannschaft der „Neuentdeckungsreise“ nicht ganz so hoffnungslos aussieht. Was Michael Bries Werk kennzeichnet, ist ein zwar wohl geordneter, aber dennoch hemmungsloser Eklektizimus, der überhaupt keine ideologischen Strömungen, materiellen Voraussetzungen oder gar politischen Positionen seiner „Quellen“ und „Zeugen“ mehr zu kennen scheint und alles das in einen Text verwurstet, was ihm der in seinem Kopf herumspukenden „Neuentdeckung“ dienlich scheint.  

Es überrascht daher nicht im Geringsten, dass er ausgerechnet die Definition des Metaphysikers Walter Benjamins (der in der Kulturforschung unbestreitbar gewisse lesenswerte Arbeiten hervorbrachte) dafür heranzieht, was er den LeserInnen ab Seite 23 als „Dialektik“ verkaufen möchte. Das möglichst bald im Buch klarzustellen ist für Kapitän Brie überaus wichtig, vergehen doch nur knappe 40 Seiten bis man auf Seite 64 anlangt, wo er den Leninschen Freiheits- und Herrschaftsbegriff als „völlig undialektischen Schluss“ über die Planke springen lässt und damit den Haien zum Fraß vorwirft.

Mit genau dieser Methodik versucht Brie sein Entdeckungsschiff in den Gewässern des wissenschaftlichen Sozialismus zu manövrieren und vor dem Schiffbruch zu retten. Er postuliert mit lautem Geschrei allerlei bürgerliche und kleinstbürgerliche Definitionen und Anschauungen – und mokiert sich dann darüber, dass Lenin diesen nicht folge leistete. Ähnlich wie dem Leninschen Freiheits- und Herrschaftsbegriff, ergeht es dann auch solchen „Banalitäten“ wie der Diktatur des Proletariats. Denn während sich Herr Brie über das scheinbare Problem verbreitet, dass die Bolschewiki im Gegensatz zur Bourgeoisie nicht die „besseren“ (lies: liberaleren) bürgerlichen Humanisten waren und in der Diktatur des Proletariats eben auch Methoden der Diktatur anwandten, geht ganz unbemerkt auch noch der soziale Inhalt der von ihm so sehr kritisierten Diktatur des Proletariats über Bord. Aber das interessiert in Bries Mannschaft niemanden, und den beiden protestierenden Seelsorgern hört ohnehin niemand zu. Der Gedanke, dass die von Brie aufgedeckten „Fehler“ Lenins daher kommen könnten, dass Lenin auf proletarischem Klassenstandpunkt stand, also mit dem Firlefanz der von Michael Brie untergeschobenen bürgerlichen Standpunkte nichts am Hut hatte, dieser Gedanke erscheint unserem großen Kapitän Brie offenbar unerträglich schlicht, weshalb er ihn gar nicht erst aufkommen lässt.

Versteht man diese Verdrängungs- und Taschenspielerakrobatik als Dreh- und Angelpunkt in der Methodik unserer traurigen Kapitänsgestalt, dann überrascht es auch nicht, dass er es als skandalös empfindet, dass unter den Bolschewiki „kein liberales Erbe im Sozialismus bewahrt wurde“ (S.66). Nahezu verstört stellt Brie daraufhin auch noch „kritisch“ fest, dass „Lenin überzeugt davon ist, dass die Frage wer herrscht, letztendlich immer mit Gewalt entschieden wird.“ (S.76) Nun, wer hätte das nur ahnen können?! Doch unser Kapitän möchte, dass auf seinem schönen Entdeckungsschiff weiterhin Ruhe und Ordnung herrscht. Daher findet er es auch überaus verwerflich, dass Lenin zwar den Kampf um demokratische Rechte führte, dieser jedoch nicht im Dienste eines kleinbürgerlich liberal-demokratischen Ideals, sondern immer nur „unter einem Punkt – der Verbesserung der Kampffähigkeit der Arbeiterklasse geführt wurde“ (S. 71). Sappalot! Dem Herrn Brie ist es also tatsächlich nicht zu blöd, Lenin dafür zu kritisieren, dass dieser die Theorie der „klassenneutralen Demokratie“ für (klein-)bürgerliches, pazifistisches Geschwätz hielt und den Kampf um demokratische Rechte dem Kampf um die politische Macht des Proletariats unterordnete.

Bis Seite 137 braucht es solcherlei Verrenkungen (unser Kapitän Brie führte uns währenddessen über die Negierung der Notwendigkeit des Bürgerkriegs für den Sozialismus, bis hin zur „Offenbarung“ der vollkommenen Untauglichkeit einer zentralisierten Kommunistischen Partei) bis er endlich bei dem Punkt angelangt ist, den er so sehnlich herbeiwünschte, weshalb er diesem gleich auch den Titel seiner „Neuentdeckung“ verpasste, wie das Entdecker, Eroberer und deren Schüler mit den Objekten ihrer Begierde in der Geschichte eben so gemacht haben. Entdeckte Amerigo Vespucci den amerikanischen Festlandkontinent und nannte ihn daher „Amerika“, so entdeckte Darwin wesentliche Gesetzmäßigkeiten der Evolution, forthin (wenngleich nicht von ihm selbst) Darwinismus genannt. Nun hat Kapitän Brie keine Kontinente oder Naturgesetze, doch er hat bedruckte Seiten, und daran kann ihn leider niemand hindern, weshalb er seine „Neuentdeckung“ als Überschrift des letzten Kapitels festhält: „Wer vom Stalinismus redet, darf vom Leninismus nicht schweigen“ wirft er, lässig an Horkheimer angelehnt, den LeserInnen entgegen. Dass er damit sehr unfreiwillig in gewisser Weise eben jene Position bestätigt die den sozialistischen Aufbau der Sowjetunion unter der Führung Stalins nicht nur als legitime Weiterführung, sondern auch als Weiterentwicklung der Sowjetunion Lenins anerkennt, das entfällt ihm in seinem bescheidenen Glück, aber sei‘s drum. Nachdem nun dieser Damm  gebrochen ist, kennt Kapitän Brie kein Halten mehr. Zuerst distanziert er sich, so wie das jeder gute Brandstifter, Nazibetrauerer und Spießbürger eben macht, vom „Stalinismus“. Nur um gleich danach festzuhalten, dass es eine furchtbare Begrenzung sei, dass bisherige Distanzeure aller Coleur ihre „Kritik des Stalinismus“ nicht auch auf Lenin erstreckten. Bei dieser akrobatischen Aufführung stützt sich Herr Brie dann auf ein Referat des „Außerordentlichen Parteitages der SED“ von 1989 (Man fragt sich: Was kann es Spannenderes geben?!), in welchem festgehalten wurde: „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System“. Als ob es das noch gebraucht hätte…

Doch wer meint, Kapitän Brie lässt es damit gut sein, der kennt unseren wackeren Entdecker nicht. Denn schon auf den Folgeseiten holt er zum nächsten Schlag aus. Nun erst, sozusagen Dank seiner „Neuentdeckung Lenins“, kann er nämlich auch klipp und klar feststellen, dass das ganze Problem des Leninismus eigentlich schon bei Marx und Engels, im Manifest der Kommunistischen Partei, das vor Widersprüchen nur so wimmle, angelegt sei, die beiden bärtigen alten Herren, denn nichts anderes sind sie gegenüber einer strahlenden Kapitänsfigur wie dem Herrn Brie, jedoch mit der „Anmaßung“ von „überlegener Einsicht“ (S. 139) diese Widersprüche beiseite wischten. Zu schade, dass der Verlag schon ein Buch mit dem Titel „Marx neu entdecken“ herausgebracht hat, nichts Geringeres wäre nämlich als nächste Entdeckungsreise ins Traumland der liberalen Bourgeoisie unserem Kapitän würdig.

Sollte Kapitän Brie dennoch, obwohl ihm dieser große Fisch durchs Netz ging, einen weiteren Bericht über eine andere seiner kuriosen Entdeckungsreisen veröffentlichen, so hoffen wir inständig davon verschont zu bleiben. Denn betrachtet man es genauer, ist der Herr Brie alles andere als ein glänzender Kapitän. Höchstens ist er ein ziemlich heruntergekommener Handlungsreisender, der die alte, längst verdorbene und schon etwas streng riechende Ware der Sozialdemokratie als „neue Entdeckung“ anpreist und demgemäß seine Anschauungen auch nicht vom proletarischen Klassenstandpunkt aus entwickelt, sondern ganz und gar im Dienste der Bourgeoisie.

Nicht das Klasseninteresse des Proletariats ist ihm Maßstab für Kritik und Bewertung, sondern seine eigenen Befindlichkeiten als Reformist und Mahner für die bürgerlich-liberale Ordnung. Nicht die Zertrümmerung des Imperialismus, und daraus abgeleitet die Fragestellungen was die nächsten Aufgaben der proletarischen Revolutionäre sein müssen, sind ihm das Ziel, sondern eine „Liberalisierung des Leninismus“. Damit wird Brie zu einem wichtigen Protagonisten einer neueren ideologischen Entwicklung in der Linkspartei-geführten deutschen „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ (RLS), einem wichtigen Think-Tank der europäischen „Linksparteien“ und finanzielle Förderin der Herausgabe des hier besprochenen Buches. Gewisse Kräfte in Linkspartei und RLS bereiten sich auf eine Zuspitzung der Klassenkämpfe vor und stellen die Weichen dafür, dass sie in diesen schärfer werdenden Kämpfen gegebenenfalls auch „linker“ auftreten können. Dafür soll nun auch Lenin herhalten, dem diese zweifelhafte Ehre aus dieser Ecke glücklicherweise bisher weniger häufig zufiel (das war viel eher das Geschäft solcher Parteien wie der DKP in Deutschland oder, bis vor einigen Jahren, der KPÖ). Die RLS und mit ihr die Linkspartei bereiten sich auch mit Bries Werk ideologisch darauf vor, Lenin und die Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion demagogisch „besser“ aufgreifen und damit in Wahrheit noch härter angreifen zu können. Dies deshalb, weil sie sich darauf vorbereiten müssen in zunehmenden und verschärften Klassenkämpfen die Massen besser betrügen zu können, die spontane revolutionäre Energie der Massen besser kanalisieren und abfangen zu können. Bries Werk ist daher weitaus mehr als eine kleinbürgerlich-liberale Spinnerei, verfasst von einem verlorenen Reformisten,  sondern es handelt sich um einen Frontalangriff auf die Lehren der Bolschewiki und auf die Lehren des Leninismus, womit es zu einem Frontalangriff auf alle Revolutionäre wird, die darum kämpfen diese Lehren auf die heutige Zeit, auf Höhe der heutigen Epoche anzuwenden und ihnen folgen.

Michael Brie: Lenin neu entdecken.
Das hellblaue Bändchen zur Dialektik der Revolution & Metaphysik der Herrschaft.
VSA-Verlag, 2017
ISBN: 978-3-89965-734-0
Preis: 12,40 Euro (Ö),