Repräsentative Ämter wie das des Bundespräsidenten haben für propagandistische Zwecke den ungemeinen Vorteil, dass sie keine Aufgaben haben, demnach auch nicht den Zorn von vom Staat geschädigten Interessen auf sich ziehen können, aber doch irgendwie den Staat repräsentieren.
So ist Steinmeier die Verkörperung des imperialistisch-chauvinistischen Ideals vom bürgerlichen Staat, das beleibte notwendig falsche Bewusstsein. Als solcher darf er zu Ostern, das der theologisch wichtigste Fest des Christentums ist, das in seiner Freiheit bedrängte Volk beruhigen.
Der empathische Staat
Die Wirklichkeit des bürgerlichen Staats ist eine stete Enttäuschung des Ideals, das diese Gesellschaft von ihm pflegt, zumindest auf der Seite des Volkes. Immer wieder heißt es, der Staat sei für uns da. Immer wieder merkt das Volk, dass es nicht gemeint sein kann, oder belogen wird. Doch keine Sorge, Steinmeier denkt an euch!
„Es tut weh, auf den Besuch bei den Eltern zu verzichten. Großeltern zerreißt es das Herz, nicht wenigstens an Ostern die Enkel umarmen zu können. Und viel mehr noch ist anders in diesem Jahr. Kein buntes Gewimmel in Parks und Straßencafés. Für viele von Ihnen nicht die lang ersehnte Urlaubsreise. Für Gastwirte und Hoteliers kein sonniger Start in die Saison. Und für die Gläubigen kein gemeinsames Gebet. Und für uns alle die bohrende Ungewissheit: Wie wird es weitergehen?“
und ein bisschen weiter im Text:
„Wir trauern um die, die einsam sterben. Wir denken an ihre Angehörigen, die nicht einmal gemeinsam Abschied nehmen können. Und wir danken den unermüdlichen Lebensrettern im Gesundheitswesen. So sehr unser aller Leben auf dem Kopf steht, so denken wir an die, die die Krise besonders hart trifft – die krank oder einsam sind; die Sorgen haben um den Job, um die Firma; die Freiberufler, die Künstler, denen Einnahmen wegbrechen; die Familien, die Alleinerziehenden in der engen Wohnung ohne Balkon und Garten.“
Der Akt der Anerkennung des Leidens des Volkes lässt postmoderne Herzen höher schlagen, und ist die umgekehrte Marie Antoinette. Historisch nicht belegt wird der letzten Königin vor der französischen Revolution gerne in den Mund gelegt, sie habe auf den Hunger des Volkes geantwortet:“Sie haben kein Brot? Sollen sie doch Kuchen essen.“ Diese Legende soll die Abgehobenheit des Adels und seine Entfremdung vom Volk belegen.
Steinmeier will das Schicksal von Marie Antoinette nicht teilen. Er ist ganz anders. Er weiß um die Nöte des Volkes. Er erkennt sie an. Er ist empathisch. Und er erkennt die Trennung von Herrschenden und Beherrschten nicht an, indem er das Volk adressiert, und von „wir“ spricht. Diese beschwichtigende Geste soll die enttäuschten Illusionen des Volkes wiederherstellen. Sie soll vermitteln, Steinmeier ist nicht Marie Antoinette, er nimmt das Volk ernst. Doch letztlich sagt die Sau nur: „Ich weiß, dass ihr Hunger habt.“
Der demokratisch-liberale Staat im Ausnahmezustand
„Es ist gut, dass der Staat jetzt kraftvoll handelt – in einer Krise, für die es kein Drehbuch gab. Ich bitte Sie auch alle weiterhin um Vertrauen, denn die Regierenden in Bund und Ländern wissen um ihre riesige Verantwortung.
Doch wie es jetzt weitergeht, wann und wie die Einschränkungen gelockert werden können, darüber entscheiden nicht allein Politiker und Experten. Sondern wir alle haben das in der Hand, durch unsere Geduld und unsere Disziplin – gerade jetzt, wenn es uns am schwersten fällt.
Den Kraftakt, den wir in diesen Tagen leisten, den leisten wir doch nicht, weil eine eiserne Hand uns dazu zwingt. Sondern weil wir eine lebendige Demokratie mit verantwortungsbewussten Bürgern sind!“
Das ist in erster Linie ein Aufruf zum Gehorsam. Zweitens ist es aber auch die sozialpädagogisch formulierte Drohung von Matthias Müller. Ob die Einschränkungen gelockert (oder verschärft) werden, hängt von Gehorsam des Volkes gegenüber seiner Regierung ab. Ein wahrer Offenbarungseid über die „Volkssouveränität“ in diesem Staat ist das! Steinmeier sagt, wir haben unser Leben in der Hand, und meint, dass wir als williges oder rebellisches Menschenmaterial dieses Staats die materielle Grundlage s e i n e r Entscheidung sind. Er offenbart dadurch, dass wir, das Volk, eben nur unser Leben tatsächlich in der Hand haben, wenn wir die Macht erobern.
Der zweite Absatz spricht es auch nochmal indirekt aus. Wenn ihr nicht verantwortungsbewusst, also vorauseilend gehorsam seid, dann kommt die eiserne Hand, die euch zwingt!
Die Volksgemeinschaft
Schon weiter oben wurde die Trennung zwischen Staat und Volk negiert, aber Steinmeier will die berühmt berüchtigte deutsche Gründlichkeit in der Frage des Korporatismus nicht vermissen lassen.
„Eine Demokratie, in der jedes Leben zählt – und in der es auf jede und jeden ankommt: vom Krankenpfleger bis zur Bundeskanzlerin, vom Expertenrat der Wissenschaft bis zu den sichtbaren und unsichtbaren Stützen der Gesellschaft – an den Supermarktkassen, am Lenkrad von Bus und LKW, in der Backstube, auf dem Bauernhof oder bei der Müllabfuhr.
So viele von Ihnen wachsen jetzt über sich selbst hinaus. Ich danke Ihnen dafür.“
Offenbar leben wir nicht in einer Klassengesellschaft, wo die einen mit Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit oder Überstunden klarkommen müssen, und die anderen Staatshilfen kriegen, um bei eingebrochenem Umsatz profitabel zu bleiben. Anscheinend leben wir in einem organischen Ganzen, wo jeder an seinem Platz seine Aufgabe hat, und alle gemeinsam zu einem Gemeinschaftswerk beitragen. Wenn man Steinmeier glauben kann.
Dieser korporatistische Gedanke über die kapitalistische Klassengesellschaft ist eine zur Lüge gesteigerte Einseitigkeit, der man aber nicht einfach beikommen kann, indem man sagt, es ist unwahr. Denn die kapitalistische Klassengesellschaft ist wie jede Klassengesellschaft eine gesellschaftliche Arbeitsteilung bei der Gebrauchswerte entstehen, die die Gesellschaft versorgen. Insofern gibt es Identität. Was die korporatistische Propaganda zur Lüge macht, ist, dass die Seite des Kampfes durchgestrichen wird.
Tatsächlich wird hier durch Supermärkte das Volk mit Essen versorgt, wenn dafür bezahlt wird. Tatsächlich wird hier in Krankenhäusern Gesundheit wiederhergestellt, wenn dafür bezahlt wird, und weil es für den relativen sozialen Frieden notwendig ist. Eben alles unter der Herrschaft der Bourgeoisie, für ihren Machterhalt, für ihren Profit. Die Arbeit findet für die Bourgeoisie statt, und das Volk hat davon etwas, sofern es für die Interessen der Bourgeoisie notwendig ist.
Indem Steinmeier das leugnet, kommt er zu der absurden Behauptung die Volksgemeinschaft würde gerade gemeinsam gegen das Virus kämpfen, weil jedes Leben zähle. Die Klassen kämpfen noch immer gegeneinander, weil die Bourgeoisie auf Kosten des Volkes lebt. Und die Pandemie verschärft diesen Klassenkampf.
Deutschlands Platz an der Sonne
Deutschlands Platz an der Sonne liegt in Griechenland, Italien und in Spanien. Was der deutsche Tourist weiß, weiß das deutsche Finanzkapital schon lange, und ebenso sein Bundespräsident.
„Nein, diese Pandemie ist kein Krieg. Nationen stehen nicht gegen Nationen, Soldaten nicht gegen Soldaten. Sondern sie ist eine Prüfung unserer Menschlichkeit. Sie ruft das Schlechteste und das Beste in den Menschen hervor. Zeigen wir einander doch das Beste in uns!
Und zeigen wir es bitte auch in Europa! Deutschland kann nicht stark und gesund aus der Krise kommen, wenn unsere Nachbarn nicht auch stark und gesund werden. Diese blaue Fahne hier steht nicht ohne Grund dort. Dreißig Jahre nach der Deutschen Einheit, 75 Jahre nach dem Ende des Krieges sind wir Deutsche zur Solidarität in Europa nicht nur aufgerufen – wir sind dazu verpflichtet!“
Wie durch die ganze Rede zieht sich hier durch die Feststellung, was nicht ist, das was sein könnte als Drohung. Das deutsche Volk wird höflich darauf hingewiesen, dass wenn es nicht als Kanonenfutter herhalten will, so sollte es lieber brav die Zeche zahlen, nicht für „Pleite-Griechen“ und andere Propagandabilder der Springer-Presse, sondern für das deutsche Finanzkapital, dessen Geschäfte in Europa gerade an die Wand fahren.
Die Abhängigkeit Europas vom deutschen Kapitalexport wird dann als Hebel genutzt, um bei den Nachbarn reinzuregieren und ihre Selbstbestimmung mit Füßen zu treten. Das ist dann Solidarität.