Wir veröffentlichen die inoffizielle deutsche Übersetzung des Editorials der El Pueblo #93 aus dem Januar.

Im gegenwärtigen Moment des Kampfes, der am 18. Oktober begann, ist es neben vielen anderen Dingen besonders wichtig, dem offiziellen Diskurs entgegenzutreten, indem man anerkennt, dass der Volksaufstand ein politischer Kampf ist und dass die Gefangenen des Aufstandes politische Gefangene sind.

Dinge bei ihrem Namen nennen

Es ist ein Unterschied, ob man von einem "sozialen Ausbruch" spricht oder von einer Volksrevolte oder Rebellion. Es ist kein Zufall, dass die offizielle Bezeichnung, die von der Monopolpresse und der Regierung übernommen wurde, die des "Ausbruchs" ist. Diese Bezeichnung hat die Bedeutung eines fulminanten, intensiven, aber vorübergehenden Moments; was mit der Vorstellung übereinstimmt, dass es sich nur um eine anekdotische, vorübergehende Tatsache innerhalb der "demokratischen Stabilität" des Landes handeln würde, so wie angeblich die Periode der faschistischen Militärjunta innerhalb der "konstitutionellen demokratischen Tradition" sein würde. Eine Revolte oder einen Volksaufstand zu begreifen, bedeutet hingegen, einen in Gang gesetzten politischen Prozess zu erkennen, einen Anfang, eine Bemühung um eine tiefgreifende Umgestaltung, die durch das gewaltsame und entschlossene Handeln der Masse des Volkes vorangetrieben wird.

Der wachsende Volksprotest, der zum Oktoberaufstand führte, hat auch die Sprache des Kampfes allmählich wieder aufleben lassen. Aber manche Wörter kosten mehr als andere. Allein der Begriff "Volk" ist für manche Menschen immer noch schwer auszusprechen. Sie gehören zu den Wörtern, die aus der "akzeptierten" Sprache verbannt und durch andere, für das Ausbeutungsregime harmlosere ersetzt wurden, wie z.B. "Bürger". Es passiert mit vielen anderen: Arbeiterklasse, Bauernschaft, Bourgeoisie, Imperialismus, Revolution. Sie wurden aufgegeben, weil sie für sie gefährlich sind. Das ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer bewussten ideologischen Offensive, um den Massen die Ideologie zu nehmen, die es ihnen erlaubt, die Gesellschaft und den revolutionären Weg zu ihrer Umgestaltung richtig zu verstehen, und sie durch ihren "Postmodernismus" und ihre "Postwahrheit" zu ersetzen.

Auch die Sprache erscheint als Terrain der Auseinandersetzung, und das ist denjenigen, die in der Bewegung für Frauenrechte und Dissidenz1 gekämpft haben, wohl bekannt. Dieser Streit entsteht, weil die Art und Weise, wie die Dinge benannt werden, die "Kategorien", Vorstellungen widerspiegeln und vermitteln. Die Sprache erschafft nicht die Wirklichkeit, aber sie spiegelt wider, wie sie aufgefasst wird und welche Position man ihr gegenüber einnimmt, und das Wort ist in der Lage, Handlungen zu mobilisieren, wenn der Akt der genauen Benennung der Dinge es anderen erleichtert, sie in ihrer wahren Physiognomie2 zu sehen.

Aber es geht nicht darum, Worte zu ändern, damit sich etwas ändert. Das Volk der Mapuche hat uns noch deutlicher gezeigt, dass es nur durch seinen entschlossenen Kampf die Anerkennung der richtigen Bezeichnungen für seine Forderungen gewonnen hat: Mapuche-Nationalvolk, territoriale Rückgewinnung, territoriale Kontrolle, Autonomie. Und in ihrem Kampf haben sie auch so elementare Begriffe wie ihre eigene Bezeichnung als Mapuche und nicht "Mapuches" oder noch weniger "Araukaner" wiederhergestellt.

 

Der Kampf auf dem Feld der Ideen

In jedem Bereich des menschlichen Lebens ist es notwendig, eine präzise Sprache zu haben, die die Dinge genau wiedergibt. Ein Arzt kann z. B. nicht einfach von "Bauchschmerzen" sprechen, um die vielen verschiedenen Pathologien zu bezeichnen, die Schmerzen im Bauchbereich verursachen können, sondern muss zwischen Schmerzarten spezifizieren und genau zwischen Organen und Organteilen unterscheiden, um die Erkrankung genau zu unterscheiden, sich verständlich zu machen und das Ziel zu erreichen, dass die Erkrankung angemessen behandelt wird. Und es ist diese Präzision - das Ergebnis eines richtigen Verhältnisses zwischen Wissen und Praxis -, die einen wahren Arzt von einem Scharlatan unterscheidet.

Was so selbstverständlich erscheint, wird jedoch bestritten, wenn es darum geht, die Gesellschaft und ihre Widersprüche wissenschaftlich zu beobachten und zu verstehen. Alle möglichen Überlegungen tauchen auf, um die Sprache so vage und ungenau wie möglich zu halten. Und das wird systematisch ausgenutzt und gefördert von denen, die diese alte und verrottete Ordnung aufrechterhalten wollen. So wird z.B. der Klassencharakter der Gesellschaft ausgeblendet, wenn man von "Demokratie" oder "Diktatur" spricht, was jedem den nötigen Raum für seine eigene Interpretation eröffnet. So darf z.B. die Diktatur der Großbourgeoisie und Großgrundbesitzer, in der wir derzeit leben, "Demokratie" genannt werden.

Wenn wir nun noch genauer sagen, dass die Sprache zum Terrain des Streits wird, so ist darunter eigentlich zu verstehen, dass die Ideen, die Weltanschauung, die bestimmte Wörter enthalten, im Streit liegen. Wenn es zu offenen Klassenkämpfen kommt, ist dies am deutlichsten. Für Reaktionäre werden Menschen, die auf irgendeinem Terrain Forderungen und Kritik äußern, als "Konfliktsuchende" bezeichnet; Kämpfer auf der Seite des Volkes werden als "Gewalttäter", "Terroristen" oder "Narco-Terroristen" bezeichnet; und diejenigen, die wegen ihres Kampfes ins Gefängnis kommen, werden nicht als politische Gefangene, sondern als "Delinquenten" oder "Asoziale" bezeichnet.

Der Klassenkampf entfaltet sich auf drei grundlegenden Terrains, dem Kampf auf dem politischen Terrain, dem Kampf auf dem Terrain der Wirtschaft und dem Kampf auf dem Terrain der Ideen. Und letztere können unter bestimmten Umständen den Verlauf des gesamten Kampfes bestimmen, denn wenn Ideen in den Massen Wurzeln schlagen, werden sie zu einer materiellen Kraft.

Im gegenwärtigen Moment des Kampfes, der am 18. Oktober eröffnet wurde, ist es neben vielen anderen Dingen besonders wichtig, den offiziellen Diskurs zu konfrontieren, indem man anerkennt, dass der Volksaufstand ein politischer Kampf ist, und dass die Gefangenen des Aufstandes politische Gefangene sind. Die Verteidigung der Hunderte von Kämpfern und Kämpferinnen, die noch im Gefängnis sind, verlangt, dass ihr Zustand als politische Gefangene gerechtfertigt wird, denn sie wurden inhaftiert, weil sie gegen dieses Regime der Unterdrückung und Ausbeutung gekämpft haben, das zu einem System geworden ist. Sie werden von dem Staat eingesperrt, der heute von dem völkermordenden und Vaterlandsverräter Piñera regiert wird, der aber von jeder einzelnen der vorangegangenen reaktionären Regierungen unterstützt wurde, so dass es notwendig ist, auch die Kämpfer vor dem Aufstand und die im Mapuche-Kampf inhaftierten Weichafe zu rechtfertigen.

Diese klar definierte Konzeption und Position angesichts der Kämpfe, die derzeit im Land stattfinden, ist genau das, was Piñera, seine Regierung, der alte Staat als Ganzes und sogar die internationalen Menschenrechtsinstitutionen eilig leugnen. Sie können nicht erkennen, dass die gegenwärtigen Kämpfe Ausdruck des Klassenkampfes sind, eines politischen Prozesses, der eine neue Generation von Kämpfern und Kämpferinnen schmiedet, die diese alte Gesellschaft von ihren Grundfesten fegen wollen, mit einem Verlangen, das so tief ist, dass es nicht in den konstitutionellen Illusionen kanalisiert werden konnte und sich allmählich in Richtung einer revolutionären Perspektive bewegt.

 

Ja, sie sind politische Gefangene

Als der Slogan "Freiheit für die Gefangenen der Revolte" durch Straßenaktionen, Kundgebungen und Sabotageakte allmählich zu "Freiheit für alle politischen Gefangenen" wurde, kamen das Öffentlichkeitsministerium und die Regierung schnell mit Berichten und Erklärungen heraus, um zu versuchen, diese Idee aus der öffentlichen Meinung herauszubekommen, indem sie so laut wie möglich schrien, dass "es in Chile keine politischen Gefangenen gibt". Amnesty International unterstützte dieses Argument schnell mit der absurden Idee, dass ein politischer Gefangener ausschließlich ein Gefangener ist, der "wegen seiner Ideen" inhaftiert ist, ein "Gewissensgefängnis", d.h. für Amnesty International wäre eine Person, die inhaftiert ist, weil sie sich gegen die Unterdrückung ausspricht, ein politischer Gefangener, aber nicht einer, der gegen sie handelt.

In Wirklichkeit sind die Argumente, die die Reaktionäre vorzubringen versuchen, letztlich von keiner großen Bedeutung. Die Bedeutung liegt darin, ob es ihnen gelingt, sich endgültig durchzusetzen oder nicht. Wie in jedem Kampf in der Geschichte wird die Tatsache, dass die Gefangenen der Revolte und die politischen Gefangenen der Mapuche als politische Gefangene anerkannt werden, nicht das Ergebnis einer akademischen Debatte sein, sondern das Ergebnis des konkreten Kampfes, der weiterhin innerhalb und außerhalb der Gefängnisse stattfindet. Und damit dieser Kampf, der sich in konkreten Aktionen des Klassenkampfes entwickelt, in einer höheren und einheitlicheren Form stattfinden kann, wird die unvermeidliche Arbeit der Klärung und Vereinheitlichung der Ideen, Kriterien und Ziele unter den Kämpfenden notwendig sein. Der Kampf auf dem Terrain der Ideen besteht nicht darin, den Klassenfeind zu überzeugen, sondern zu verhindern, dass sich die schädlichen Ideen und Vorstellungen der Reaktion und des Revisionismus im Volk entwickeln.

Heute müssen wir mit Nachdruck propagieren und verteidigen, dass die Gefangenen des Aufstandes, die Gefangenen der früheren Kämpfe und die Mapuche-Gefangenen politische Gefangene sind, um den Willen, weiter zu kämpfen, zu verdeutlichen und zu bekräftigen. Es ist ein Kampf auf dem Terrain der Ideen, der sich vor allem im Herzen des Volkes abspielen muss, der sich aber, um sich durchzusetzen, vor allem in konkreten Kampfaktionen entwickeln muss.

Der Wille zum Kampf wird mit Überzeugungen und Klarheiten bekräftigt, die im Laufe des Kampfes selbst, nach und nach und in Sprüngen erreicht werden. Und so wie es nicht dasselbe ist, von Gefangenen im Allgemeinen zu sprechen wie von politischen Gefangenen, wird die Erfahrung des Kampfes uns erlauben, Stück für Stück die ideologische Verwirrung zu klären, die dem Volk aufgezwungen wurde, und es wird auch verstanden werden, dass es nicht dasselbe ist, von Imperialismus wie von "Neoliberalismus" zu sprechen, von "werktätiger Klasse" wie von Arbeiterklasse3 zu sprechen, oder von Marxismus wie von Revisionismus zu sprechen, und so werden wir in der Lage sein, die ideologischen Klarheiten zu erreichen, die die Geschichte der internationalen revolutionären Bewegung uns vererbt hat, systematisiert in der wissenschaftlichen Ideologie des Proletariats: Marxismus-Leninismus-Maoismus.

Inmitten des Kampfes und indem wir die Dinge beim Namen nennen, werden wir so der Aufgabe dienen, die uns Recabarren4 1917 hinterlassen hat: "dem Verstand der Arbeiterklasse nützliche wissenschaftliche und philosophische Kenntnisse zu vermitteln ... die Elemente der Beurteilung und Prüfung bereitzustellen, damit alle Individuen die Wahrheiten besitzen, die notwendig sind, um die klarste Auffassung vom Leben, vom Grund der menschlichen Existenz, von der Aufgabe der menschlichen Gesellschaft und von der Form, in der sie organisiert sein muss, um frei und glücklich zu leben, zu erlangen".

 

1 Dissident bezeichnet einen unbequemen Andersdenkenden, der öffentlich gegen die allgemeine Meinung oder politischen Regierungslinie aktiv auftritt; Anmk. des Übersetzers
2 Griechisch physiognomia = Untersuchung der Natur, des Körperbaus, zu: physis und gnome = Erkenntnis; Anmk. des Übersetzers
3 Im spanischen „clase trabajadora“ (werktätige Klasse) und „clase obrera“ (Arbeiterklasse), die aber auch beide als Arbeiterklasse übersetzt werden können. Der Unterschied lässt sich darum nicht genau ins deutsche übertragen; Anmk. des Übersetzers
4 Luis Emilio Recabarren (1876-1924) war ein chilenischer Politiker und gilt als der Begründer der chilenischen Arbeiterbewegung; Anmk. des Übersetzers