In der vergangenen Woche veröffentlichte „Die Zeit“ eine Reihe von Artikeln zum Thema der ökonomischen Entwicklung und der ökonomischen Verteilung innerhalb der BRD. In diesem Zusammenhang veröffentlichten sie sogar ein Essay mit dem Titel „Die Klasse ist zurück“. Was für uns eine Selbstverständlichkeit ist, ist für die bürgerliche Presse jedoch scheinbar ein Novum. Warum wird ausgerechnet jetzt dieses Thema aufgegriffen? Neue Studien zeigen, was im Klassenstandpunkt 17 schon ausgeführt wurde: Die „Mittelschicht“ schrumpft und immer mehr Teile davon rutschen in die Reihen der „Prekären“ und der „Armen“ ab. Anlass genug erneut diese Thematik weiter auszuführen.  

 

Basierend auf Erkenntnissen des Bremer Forschungsgruppe „Socium, Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik“ hat „Die Zeit am 17.02.21 einen langen Artikel mit dem Titel Soziale Ungleichheit – wie wohlhabend sind Sie veröffentlicht, mit allerhand Web 2.0 Schnickschnack wie etwa ein „interaktivem Rechner“ mit dem man selber ausrechnen kann in welcher „Schicht“ man angeblich sei. Die zentrale Aussage der Studie und Aufhänger des Artikels ist jedoch eine: Die „Mittelschicht“ schrumpft. Oder wie es die Wissenschaftler selber ausdrücken:

 

„Deskriptive Analysen zur Entwicklung sozialer Lagen seit 1984 dokumentieren einen längerfristigen und strukturellen Prozess zunehmender materieller Ungleichheiten, der sich vor allem in einer Polarisierung sozialer Lagen zeigt. Dieser Befund deckt sich mit den bisherigen Ergebnissen der Armuts- und Reichtumsberichterstattung, erfährt aber im Kontext der Analysen sozialen Lagen nochmals eine deutliche Pointisierung und Konkretisierung.“

„Die Mitte schrumpft, die Ränder wachsen.“

 

 

Arm und Reich

 

 

Die Redaktion des Klassenstandpunktes hielt dazu in dem Artikel „Das Streben des deutschen Imperialismus sich zu einer Supermacht zu entwickeln und die Krise der parlamentarischen Demokratie“ bereits 2019 fest:

 

„In der BRD wird seit Jahrzehnten implizit ein Gesellschaftsvertrag aufrechterhalten, nach dem große Teile der Bevölkerung, sogar größere Teile innerhalb der Klasse des Proletariats, bestochen werden, dafür das sie für sozialen Frieden sorgen. Hier ist das Motto: Jedem sein Haus, seine Familie, sein Bausparvertrag, sein Auto, sein Hund und dafür guter Deutscher sein. Imperialismus ist allerdings verrottender, sterbender und untergehender Kapitalismus, wie Lenin richtig feststellte, und die ökonomische Grundlage für eine solch umfängliche Bestechung durch den deutschen Imperialismus wird immer schmaler. Die allgemeine Tendenz des abrutschenden Teils der oberen und mittleren Schichten des Proletariats wird hierdurch noch angetrieben. Auch aus der Klasse der Kleinbürger kommen mehr und mehr Elemente in das Proletariat. Internationale Institutionen wie beispielsweise die Organisation für ökonomische Kooperation und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development OECD) haben dies längst erkannt und stoßen massiv Warnungen aus, dass in den imperialistischen Ländern die stabilisierende Mittelschicht im Auflösen begriffen ist und dieser Trend zunehmend schneller wird. [...]

 

Die Schichten, die vor Allem von der veränderten wirtschaftlichen Situation (der Verschärfung der imperialistischen Widersprüche und einem Wegfall von einer ökonomischen Grundlage für weitreichende Bestechung) betroffen sind, sind die obersten Schichten des Proletariats und das Kleinbürgertum, dass heißt die Teile der Bevölkerung, die laut bürgerlicher Sichtweise bisher den Kern der Mittelschicht ausmachten. [...]

 

Auch wenn im Folgenden die verschiedenen bürgerlichen Quellen leicht unterschiedliche Definitionen vorlegen, wer zur Mittelschicht gehört, sind diese im Kern deckungsgleich und unterscheiden sich primär darin, welche Einkommensgrenzen die oberen und unteren Grenzwerte ausmachen.“

 

Anders als in dem dort erwähnten OECD-Bericht wird in der Frage der Bremer Studie nicht nur das Einkommen betrachtet, sondern wie hoch das Haushaltsnettoeinkommen, das Haushaltsvermögen, die Art des Gelderwerbs (z.B. Rentner, Student, Arbeiter), die Größe der Wohnung, das Mietverhältnis und die Größe der Gemeinde in der man lebt ist. Dennoch unterscheiden sich die Resultate nicht signifikant. Auch in dieser Studie wird die „Mittelschicht“ als lächerlich große Menge der Gesellschaft dargestellt.

 

Neben der untersten Schicht, der „Armut“ will die Forschungsgruppe aber auch noch eine andere Schicht ausgemacht haben: Das sogenannte Prekariat, welches u.a. dadurch definiert wird, dass es zwischen 60 und 80 Prozent des Einkommensmedians liegt.

Warum greifen wir trotzdem auf diese Studie und ihre Daten zurück? Weil selbst, wenn man versucht es zu schönen und mit komplizierten Kombinationen und Zahlendrehereien hinzudrehen sich nicht leugnen lässt, dass „Die Mitte schrumpft, die Ränder wachsen.“ Der Anteil der „Armen“ ist im Vergleichszeitraum um 50 Prozent gewachsen, der Anteil der „Wohlhabenden“ von 6 auf 11 Prozent gestiegen.

Während in den 80ern die Einkommensunterschiede auf dem Land und in der Stadt recht ausgeglichen war ist heute der Unterschied viel deutlicher: in der Stadt treffen die Klassenunterschiede stärker aufeinander. Es leben sowohl viel mehr arme als auch Reiche in Stadt verglichen mit dem Land. „Frauen gehören seltener zur obersten Gruppe der Wohlhabenden, dafür laufen sie ein größeres Risiko, in der Lage der Armut zu landen.“

Darüber hinaus wird in dem Artikel, wenn auch nicht explizit, auf die Frage des Scheiterns des Gesellschaftsvertrages eingegangen. Während von den seit 1984 befragten Haushalten in den 80er Jahren noch 60 Prozent der „Armen“ in eine andere Schicht aufzusteigen vermochten sind es jetzt nur noch 37 Prozent. Wer arm ist bleibt es meistens auch und schafft den Aufstieg nicht.  

 

 

Arm bleibt arm

 

 

Die im Klassenstandpunkt angesprochene „Situation, in der 1) der bisherige Gesellschaftsvertrag in Auflösung begriffen ist, 2) die Reihen des Proletariats wachsen und 3) große Teile des Proletariats und Kleinbürgertums die akute Angst haben abzurutschen“ entwickelt sich weiterhin und treibt die Krise des parlamentarischen Systems voran. Die „Mittelschicht“ als stabilisierender Faktor für den deutschen Imperialismus wird kleiner und kleiner. Immer mehr Elemente rutschen ins Proletariat ab - selbst nach bürgerlichen Studien. Abschließend muss besonders hervorgehoben werden, dass die in der Studie verwendeten Daten noch aus der vor Corona-Krise stammenden Zeit kommen, die zweifellos die beschriebene Tendenz sprungartig verschärft hat.