Im Sommer 2006 ertrank Deutschland in einem Meer aus Nationalfahnen und ihr Land bejubelnden „Patrioten“, wie es seit gut 60 Jahren damals nicht mehr der Fall gewesen war. Zum zweiten Mal schon wurde die Fußball-Weltmeisterschaft damals, von „Kaiser Franz“, Wolfang Niersbach, Theo Zwanziger und anderen Sportfunktionären und bürgerlichen Politikern mittels Schmiergeldzahlungen ins Land geholt, in der Bundesrepublik Deutschland ausgerichtet.
Im Gegensatz zu früheren Zeiten, wo man mit Beckenbauer, Matthäus, Uli Hoeneß und Andi Brehme eine Auswahl auf dem Platz und am Seitenrand hatte, die nicht unbedingt den Anschein von „Weltoffenheit“ erregte, konnte der DFB sich 2006 „bunt und vielfältig“ mit Asamoah, Odonkor, Klose und Poldi im Kader zeigen, mit dem „westlich-liberalen“ Jürgen Klinsmann als Coach, mit Musik-Acts von Grönemeyer bis SEEED und als Land mit dann mittlerweile hohem Migrantenanteil „Die Welt zu Gast bei Freunden“ ausrufen. „Zu Gast bei Freunden“ und das „freudenvolle Miteinander“, die „herzliche Begrüßung der Menschen“ der Gäste aus aller Welt, wie sich die deutsche Bourgeoisie selbstbeiweihräucherte, bedeutete, dass es nun auch erlaubt war, „endlich wieder“ stolz die Nationalfahne zu schwenken, „Deutschland, Deutschland über alles“ zu grölen und ab und zu mal aus Versehen den Hitlergruß zu zeigen. Der angebliche „friedliebende Patriotismus […] auf eine sehr symphatische Art“, „stolz darauf sein, Deutscher zu sein“, wie es Sönke Wortmann, Regisseur des Films Deutschland. Ein Sommermärchen und damit Namensgeber des Ereignisses für die Bourgeoisie im Rückblick, bezeichnet, erreichte große wie kleine Städte in Public-Viewings und dergleichen auf erschreckende Art und Weise; die Bourgeoisie sprach von einem „vier Wochen langem Fest“ und „einem Land in Euphorie“. Die Fahne raushängen, lauthals Parolen für Deutschland auf offener Straße anstimmen – Dinge, die nicht ohne Grund vorher ein absolutes „No-Go“ waren und die nur von Nazis gemacht wurden, wurden salonfähig, und das war ein wichtiger Schritt für die Bourgeoisie: Die WM diente dem deutschen Imperialismus, seine Großmachtambitionen vor aller Welt zu untermauern und dem imperialistischen Chauvinismus einen gewaltigen Anschub zu geben. Wenn heutzutage im ganzen Land überall „Ausländer raus“ gesungen wird, dann ist die WM 2006 und der „neue Patriotismus“ des so liberalen Ausrichterlandes ein sehr wichtiger Grundstein dafür, dass es wieder so weit kommen konnte.
Public Viewing vor dem Wahrzeichen des deutschen Imperialismus 2006 (Quelle: welt.de)
18 Jahre später steht mit der Europameisterschaft der Herren das nächste große Fußballturnier in Deutschland vor der Tür. Kommenden Freitag wird in München mit der Begegnung Deutschland – Schottland eröffnet. Um etwas darauf einzustimmen, wird hier und da von einem „neuem Sommermärchen“ geredet, was natürlich nicht wirklich der Stimmung im Land entspricht. War man 2006 noch am Beginn der „Ära Merkel“, erkennt die Bourgeoisie heute an, dass das Land „in Krisen“ steckt. Bezeichnend dafür ist zum Beispiel die Aussage von Turnierdirektor (und 2006 Nationalspieler) Philipp Lahm, der die EM tatsächlich als ein Turnier der „Zeitenwende“ bezeichnet und damit auf den Punkt bringt, wie der deutsche Imperialismus das Turnier gestalten und nutzen will. Für die Sportschau gibt Außenministerin Annalena Baerbock ein Interview, wo sie die ersten drei Weltmeisterschaften, die Deutschland gewann, sowie das „Sommermärchen“ vom politischen Kontext einordnet: 1954 sei eine Art „Versöhnung“ nach dem von Deutschland begonnenen 2. Weltkrieg gewesen, 1974 habe ganz im Zeichen des „Kalten Krieges“, „Osten gegen Westen“ gestanden, 1990 im Zeichen der bevorstehenden „Wende“, der Annektion der DDR – „die BRD wächst zusammen“ – und 2006 habe sich Deutschland als „weltoffenes Einwanderungsland“ präsentiert. Und nun, 2024, wolle man sich als „Land was großen Krisen trotzt […] durch Stärke“ präsentieren, „Vereint im Herzen Europas“. Dieses Interview veröffentlicht die Sportschau in einer Dokumentation namens „Deutschland. Fußball. Sommermärchen 2024?“, die zusammen mit einer anderen auf das Turnier einstimmen soll. In der Doku kommen einige der Figuren von 2006 zu Wort, wie Jogi Löw, Schweinsteiger, und die oben schon genannten Lahm und Wortmann. Der Tenor bei allen ist, dass das mit dem „Fahnen schwenken“ und Feiern 2006 ja etwas neuartiges, schönes war, und dass man sich dass dieses Jahr unter gegebenen Umständen auch wünschen würde. Die komplementierende Doku heißt „Einigkeit und Recht und Vielfalt“ und dreht sich formal um den Umgang mit Nationalspielern mit Migrationshintergrund, konkret aber um das Thema Integration in die deutsche Gesellschaft, d.h. Assimilation. Hier soll am Beispiel der Vorbilder Jonathan Tah, Gerald Asamoah, und – wohl am prägnantesten – Ilkay Gündogan, der 2018 noch rassistische Hetze aus der Boulevardpresse für sein und Mesut Özils Foto mit dem türkischen Präsidenten Erdogan abbekam, und heute Kapitän der deutschen Nationalmannschaft ist, gezeigt werden, wie man in Deutschland ein guter Untertan wird. Der Begriff „Einwanderungsland“ wird in beiden Dokus genutzt, und betrachtet man das zusammen, wird auch darin offensichtlich, dass die BRD den Druck auf Migranten, sich zu assimillieren, deutlich erhöhen will. Nachdem man 2006 einen wichtigen Grundstein für die Verbreitung und Akzeptanz des imperialistischen Chauvinismus gelegt hat, kann 2024 zunehmend die „Spreu vom Weizen getrennt werden“ und können Migranten, die zu einer Bedrohung für den deutschen Imperialismus werden, mit mehr Repression überzogen und im Zweifelsfall abgeschoben werden. Die Linie des deutschen Imperialismus ist einheitlich, ob zur EM, oder in der Regierungserklärung von Olaf Scholz, der nach dem Tod des Polizisten in Mannheim wieder nach Afghanistan und Syrien abschieben will. Die EM dient also der Vertiefung des imperialistischen Chauvinismus, nicht nur, wie es die Ampel-Regierung beabsichtigt, sondern auch für die Massenbasis AfD und ihrem Umfeld, wo die „Gutmenschen-Politik“ angezählt wird und schon eine „endlich wieder weiße Nationalmannschaft“ gefordert werden kann.
EM-Direktor Philipp Lahm will mit dem Turnier einen "Gegenentwurf" zur WM in Katar: "Bei der EM wollen wir unsere freie Art zu leben feiern. Darauf können wir stolz sein." Quelle: flashscore.de
Außenpolitisch zeigte sich der deutsche Imperialismus mit dem DFB zuletzt unter anderem mit dem Eklat um die „One-Love-Binde“ ziemlich aggressiv darin, seine „Werte“, stellvertretend für seine ökonomischen Interessen, durchzusetzen. Zur EM gibt es eine „Menschenrechtserklärung“ von Nancy Faeser, die zeigen soll, wie gerecht alles in Deutschland ist, und warum sich alle an der BRD ein Vorbild nehmen sollten. Kurz nach den Wahlen zum "Europäischen Parlament" gilt es auch, vor den anderen europäischen Ländern unter Beweis zu stellen, wer das Sagen hat.
In Fragen der „Sicherheit“ stechen die Kontrollen an der gesamten Bundesgrenze, das „internationale Polizeizentrum“ in Neuss, mobile Gefängniszellen, Drohnenabwehrsysteme und durch Drohnenaufnahmen gefütterte KI-Software hervor.
Zweihundert bis Tausend Euro zahlt man für eine Eintrittskarte, und der deutsche Imperialismus hat es nicht mal hinbekommen, ein populäres Lied für das Turnier zu produzieren. Im Radio läuft dagegen ein billiges Remake der 2006-Hymne „Zeit, dass sich was dreht“ rauf und runter. Sie denken eben noch wehmütig an ihr „Sommermärchen“ zurück, aber das wird es nicht geben, weil die politische Lage eine ganz ander und entsprechend auch das Interesse der Menschen an solcherlei bürgerlichen Veranstaltungen deutlich gesunken ist.
Titelbild: Der EM-Pokal am Austragungsort des Finales, dem Berliner Olympiastadion; das Relikt aus der Nazizeit war auch schon 2006 Schauplatz, als Italien Weltmeister wurde (Quelle: swp.de)