Auf die Antwort einer ‚Kleinen Anfrage‘ der Linkspartei erklärte die Bundesregierung, dass die „marxistische Tageszeitung ‚Junge Welt‘“ (weiterhin) als linksextremistisch eingestuft, und folglich vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Die weitere Erklärung der Bundesregierung bzw. des Bundesinnenministeriums hat es jedoch in sich. Denn die Begründung für die vermeintliche Verfassungsfeindlichkeit der ‚Jungen Welt‘ resultiere aus ihrer Klassenanalyse, und diese würde mithin gegen den verfassungsgemäßen Grundsatz der ‚Menschenwürde‘ aus Artikel 1 GG verstoßen. Die Bundesregierung – den Wortlaut des Verfassungsschutzes übernehmend – argumentiert:


„Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde. Menschen dürfen nicht zum "bloßen Objekt" degradiert oder einem Kollektiv untergeordnet werden, sondern der einzelne ist stets als grundsätzlich frei zu behandeln.“1

Der Verfassungs“schutz“, bzw. die Bundesregierung gesteht damit selbst ein, dass die Einteilung der kapitalistischen Gesellschaft in Klassen gegen ihre selbst auferlegte Verfassung ist. Sie selbst sagt, dass die Klassengesellschaft nicht mit der Menschenwürde vereinbar ist! Das heißt, nicht unsere Sichtweise auf die kapitalistische Gesellschaft, die marxistische Ökonomie, die uns die kategoriale Einteilung als Analysemethode gibt, sondern ihre materielle Struktur ist gegen die Menschenwürde!

Der Journalist Peter Nowak denkt die potentielle Verfassungsfeindlichkeit der Klassengesellschaft weiter. Denn wenn bereits das Analyseinstrument einer Einteilung der Gesellschaft in Klassen verfassungswidrig sei, öffnet das Tür- und Tor für jedwede Zensur die sich auch nur im Ansatz auf die marxsche Kritik der politischen Ökonomie beruft.

Sie sollten sich aber vergegenwärtigen, dass wir in einer Klassengesellschaft leben, wenn es auch verpönt ist, darüber zu reden. Vielleicht gilt es sogar bald schon als verfassungsfeindlich, Deutschland als Klassengesellschaft zu charakterisieren. Diesen Eindruck muss man haben, nachdem die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von Bundestagsabgeordneten der Links-Partei bekannt wurde.“2

Dass der Verfassungs“schutz“ längst seiner gesetzten Aufgabe nicht mehr nachkommt, sondern zur reinen Zensur und Machtzentrale pervertiert, zeigt nicht zuletzt seine gesetzliche Grundlage, die regelmäßig durch ebenjene Bundesbehörde selbst gesprengt wird.

Laut Verfassungsschutzgesetzgebung sollen Organisationen beobachtet werden, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpfen. Das teils jahrelange Zögern der Behörden, Bewegungen wie etwa Pegida in diesem Sinne als Beobachtungsobjekt einzustufen, sind bekannt.

Bei der jungen Welt handelt es sich nun offenkundig nicht um eine Organisation. Das Innenministerium nimmt dies auch zur Kenntnis, wertet aber andererseits die Tatsache, dass sich die Redaktion auf die Marx'sche Theorie beruft und dementsprechend vor allem Autoren aus dem linken Spektrum zu Wort kommen lässt, als "Aktionsorientierung", die die Gleichsetzung mit einer Organisation erlauben soll.

Somit werden Redakteure, Autoren, Leser und Abonnenten gewissermaßen als ein einheitliches, zumindest vernetztes, tendenziell verfassungsfeindlich agierendes Kollektiv in Haftung genommen, obwohl von einem Organisierungs- oder Vereinheitlichungsprozess keine Rede sein kann und obwohl die Beiträge und Leserbriefe im Blatt eindeutig ein Spektrum unterschiedlicher bis gegensätzlicher Positionen erkennen lassen.“3

Was die Bundesregierung und seine Geheimdienste folglich machen, ist dieWahrheit selbst zu verbieten, die Realität zu zensieren, Wissenschaftler, Journalisten und Leser in Sippenhaft zu nehmen und sie im Vorwege potentiell als „Verfassungsfeinde“ zu brandmarken. Sie benutzen ihre Verfassung (Art. 1 GG, „Menschenwürde“) um sie gegen andere Artikel der Verfassung auszuspielen (Art. 5 GG, „Meinungsfreiheit“) und somit unsere Freiheit außer Kraft zu setzen. Es ist ein Ausdruck der Krise ihrer bürgerlichen Demokratie, ihrer inneren Widersprüchichkeit. Doch ob es den Herrschenden gefällt oder nicht: Die kapitalistische Gesellschaft ist in Klassen unterteilt, in diejenigen, die Eigentümer der Produktionsmittel sind, und diejenige, die nichts zu verkaufen haben als ihre Ware Arbeitskraft. Das ist eine unleugbare Tatsache.Diese Wahrheit gefällt den Herrschenden freilich nicht. Denn die aus der materiellen Wahrheit resultierende Realität ruft unbeirrt und dringlich zur Veränderung diejenigen an, die nichts zu verlieren haben als ihre Ketten und eine Welt zu gewinnen. Diese Wahrheit steht im Gegensatz zu ihren Interessen und muss darum verboten werden:

„Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“4

Das kapitalistische bzw. imperialistische System ist ein faulendes System, ein unaufhaltsam sterbendes System. Und wenn die Herrschenden bereits dahingehen Wissenschaft zu verbieten und breitgefächert die Pressefreiheit einzustampfen, ist augenscheinlich, wie es um die Bourgeoisie und ihr System gestellt ist. Sie fürchtet sich, sie haben bitterlichste Angst vor der ausgebeuteten Klasse und versuchen daher daher jedwede Möglichkeit der Rebellion unserer Klasse im Vorhineinzu unterdrücken – praktisch wie theoretisch. Doch der Versuch der Bourgeoisie ist zum Scheitern verurteilt. Die Wahrheit lässt sich nicht verbieten und ‚trotz alledem‘ werden die Ausgebeuteten die herrschende Bourgeoisieletztlich ablösen und Gerechtigkeit sowie Wahrheit an ihre stelle setzen.

4Marx, Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie, http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_378.htm