Wir teilen hier einen Artikel von Genossen aus Magdeburg:

Wem nützt der Terror? – Der Anschlag von Magdeburg und seine Folgen

Nach dem Anschlag von Magdeburg wollen wir als hier aktive Gruppe einige unserer Gedanken zu diesem schrecklichen Ereignis aufschreiben. Der folgende Beitrag stellt einen ersten, unvollständigen Versuch dar, die Geschehnisse vom 20. Dezember 2024 und die Tage danach zu reflektieren und sich einer politischen Einordnung anzunähern.

 

Was ist geschehen?

In Magdeburg ereignete sich am 20. Dezember 2024 ein schrecklicher Anschlag. Gegen 19 Uhr raste ein schwarzer BMW über den mit Menschen gefüllten Weihnachtsmarkt. Dabei legte das Fahrzeug über 400 Meter in hohem Tempo zurück und hinterließ eine Schneise der Verwüstung. Es sind aktuell fünf Tote zu beklagen, darunter ein neunjähriges Kind. Weiterhin gibt es über 200 Verletzte, unzählige Traumatisierte und eine hohe Anzahl Betroffener, für die zukünftig Unterstützung bereitgestellt werden muss. Viele direkt oder indirekt Betroffene befinden sich auch in unserem Umfeld. Sie sind ZeugInnen, ArbeiterInnen auf dem Weihnachtsmarkt, ErsthelferInnen oder verletzte KollegInnen. Wir möchten unsere tiefe Anteilnahme und vollste Solidarität gegenüber allen Betroffenen und allen HelferInnen zum Ausdruck bringen. Der Schmerz und das verursachte Leid lassen sich, auch einige Tage danach, kaum in Worte fassen.

„Wir verurteilen die Tötung von Zivilisten, sei es historisch durch Sklaverei, Kolonialismus, Imperialismus, Besatzung und Faschismus – ebenso die strukturelle Gewalt des Hungers und der Armut durch Ausbeutung und Unterdrückung kapitalistischer Machtverhältnisse überall auf der Welt. Genauso verurteilen wir Anschläge und Morde mit rassistischer und antisemitischer Motivation.“ (aus „Wir sind nicht Charlie“)

Einige Minuten nach dem Anschlag begann auch schon der Informationskrieg, der nach solchen Ereignissen schon fast zwangsläufig folgt. Videos von der Tat verbreiteten sich in Windeseile. In Chatgruppen und in sozialen Medien wurden Falschinformationen gestreut, die zusätzlich Panik schürten und die rassistische Stimmungsmache anfeuerten. Verschiedenste PressevertreterInnen und jene, die sich als solche ausgaben, eilten zum Ort des Geschehens auf der Jagd nach Augenzeugeninterviews. Die AfD inszenierte sich in ersten Videos und Live-Statements, während im Hintergrund SanitäterInnen die Zelte für die Verletzten aufbauten. Die Hetze kam zügig ins Rollen. Erste Übergriffe auf MigrantInnen folgten noch am selben Abend.

Wie wird die Tat instrumentalisiert?

Die Hetze in den sozialen Medien fand insbesondere auf der Plattform „X“ von Elon Musk statt. Er ist ein wichtiger Berater von Donald Trump und versucht über „X“ rechte Bewegungen in verschiedenen Ländern zu befeuern. Auch der österreichische Faschist Martin Sellner, Kopf der Identitären Bewegung, verbreitete Falschinformationen hinsichtlich der Zahl der Toten und der Herkunft des Täters.
Neonazis nutzen diese Dynamik und waren bereits am nächsten Vormittag in Magdeburgs Straßen präsent. Die AfD und deren Jugendorganisation „Junge Alternative“ vereinnahmten zwischenzeitlich das städtische Gedenken an der Johanniskirche. Anwesend waren AfD-Bundesvorsitzender Tino Chrupalla und JA-Vorsitzende Anna Leisten.
Am Abend, keine 24 Stunden nach dem schrecklichen Anschlag, wurde dann zugelassen, dass über 2000 Faschisten aus ganz Deutschland sich versammeln und NS-Szenegrößen in Goebbels-Manier ihre Hetzreden schwingen. Angemeldet wurde die Demo vom Kampf der Nibelungen-Organisator Alexander Deptolla und Funktionären von „Die Heimat“ (ehemals NPD). Hunderte skandierten „Ausländer raus“, „Abschieben“ und „Nieder mit der roten Pest“.
Die Fascho-Strukturen erwiesen sich in nur wenigen Stunden nach dem Ereignis als äußerst handlungsfähig: Eine professionelle Lautsprecheranlage, Ordner und eine strukturierte Rednerliste, alles in kürzester Zeit bereit gestellt von zumeist westdeutschen Neonazi-Kadern.

Die Magdeburger Versammlungsbehörde rollte den Faschisten wie üblich den roten Teppich aus und ermöglichte ihnen einen kurzen Marsch durch die Innenstadt. Wer von den Bullen als AntifaschistIn erkannt wurde, wurde mit brachialer Gewalt zurückgedrängt. Es ist die gleiche Versammlungsbehörde, die nach dem 7. Oktober 2023 sämtliche Veranstaltungen mit minimalen friedenspolitischen Forderungen monatelang rigoros unterbunden hat.
Am Montag, drei Tage nach dem Anschlag, hielt die AfD auf großer Bühne eine Kundgebung auf dem Domplatz ab, bei der u.a. Alice Weidel als Rednerin auftrat. Sie log von der „Tat eines Islamisten“, was die Menge mit „Abschieben“-Rufen beantwortete. Im Anschluss folgte erneut ein „Trauermarsch“. Gleichzeitig ereignete sich ein Brandanschlag auf das Libertäre Zentrum in Magdeburg-Salbke. Zwei Nazis warfen einen Molotowcocktail gegen das Haus. Zum Glück konnte das Feuer umgehend gelöscht werden, so dass niemand verletzt wurde.

Pogromstimmung in Magdeburg

Für MigrantInnen und Menschen, die allein wegen ihres Äußeren in den Fokus der Rassisten geraten, bleibt Magdeburg weiter unsicher. Der ohnehin stark verbreitete Alltagsrassismus, der sich insbesondere auch gegen Muslime und AraberInnen richtet, wurde weiter gesteigert. Die Stimmung auf der Straße ist angeheizt. Nur Stunden nach dem Brandanschlag auf das L!Z, wurden eine Intensivkrankenschwester der Universitätsklinik Magdeburg und ihr Mann aufgrund ihres migrantischen Aussehens körperlich angegriffen und rassistisch beleidigt.
Berichte über Anfeindungen, Beleidigungen und körperliche Übergriffe häufen sich. Wir hören aus den migrantischen Communities Sorge und Angst. Von weiteren Angriffen, auch auf linke Strukturen, ist in den nächsten Wochen auszugehen.
Reaktionäre jeglicher Couleur versuchen den Anschlag für ihre rassistische Erzählung vom Kulturkampf gegen den Islam zu missbrauchen. Dabei treffen sie mit ihren Fake-News und Rassismus vor allem hier im Osten auf fruchtbaren Boden. Nicht erst seit der antimuslimischen Hetze gegen PalästinenserInnen im Rahmen des Völkermords in Gaza ist das Klima vergiftet. Die Umdeutung von Klassenkämpfen zu Kulturkämpfen ist spätestens seit Pegida die Agenda aller bürgerlichen Parteien. Nicht die Fluchtursachen werden problematisiert, sondern die Menschen, die angeblich „kulturfremd“ sind.

Anschläge wie auf dem Breitscheidplatz in Berlin 2016 oder Anfang diesen Jahres in Solingen wurden für sicherheitspolitische Verschärfungen instrumentalisiert. Hinzu kommen die Forderungen nach Massenabschiebungen und der Abschaffung des Asylrechts. Diese inszenierte Choreographie sind wir nach solchen Ereignissen schon gewohnt. Das erste Mal jedoch geschieht eine Tat dieser Art, die sich derart rassistisch vereinnahmen lässt, in der ohnehin schon sehr ausländerfeindlichen ostdeutschen Provinz.
Am hohen Tempo und Organisationsgrad der faschistischen Intervention lässt sich eine neue Qualität der Instrumentalisierung erahnen, die insbesondere in Ostdeutschland eine verstärkte Dynamik entwickeln kann. Von einer steigenden Gefahr für MigrantInnen und Linke ist daher auszugehen. Die Zustände in der ohnehin rassistischen Klassengesellschaft werden sich in den kommenden Wochen,insbesondere im Kontext des Wahlkampfes weiter verschärfen. Die Gefahr für organisierte Pogrome steigt real an.

Nicht nur Nazis, sondern auch die bürgerlichen Politiker zeigten Präsenz. U.a. Scholz, Merz und Faeser besuchten Magdeburg am Tag nach dem Anschlag. Ihre Betroffenheit ist die reinste Heuchelei. Denn sie sind diejenigen, die Waffen liefern für Kriege und Massaker mit unzähligen Todesopfern an jedem einzelnen Tag. Sie inszenieren sich als Trauernde, obwohl ihnen Menschenleben völlig egal sind. Sie repräsentieren das imperialistisch-kapitalisitische System, das mit seinen Krisen, Kriegen, Naturkatastrophen, Hunger und Armut bereits Millionen von Toten forderte. Die Toten des Magdeburger Weihnachtsmarkts sind weitere Opfer dieser Gewalt. Sie sind genauso wenig hinnehmbar wie die zehntausenden Toten in Gaza.

Ideologie des Täters

Wie sich herausstellte, ist der Täter ein 50-jähriger Arzt, der aus Saudi-Arabien stammt und seit 2006 in der Bundesrepublik lebt. Seit 2020 arbeitete er in Bernburg als Facharzt für Psychiatrie. 2016 erhielt er als politisch Verfolgter Asyl.
In den sozialen Medien offenbarte er Hass auf Muslime, Linke und alle, die er dafür hält, sowie eine offene Sympathie für die AfD und den siedlerkolonialistischen Apartheid-Staat Israel. In einem Interview mit der FAZ vor fünf Jahren bezeichnete er sich als „aggressivste[n] Kritiker des Islams in der Geschichte“ und sagte: „Es gibt keinen guten Islam.“ Seine Feindbilder gleichen denen von AfD oder Identitärer Bewegung, die seine Tat nun für ihre Politik der „Remigration“ instrumentalisieren. Er hat sich in einem Abwehrkampf gesehen: Deutschlands Ziel sei die Islamisierung Europas und Deutschland attackiere angeblich die islamkritische Bewegung. Dafür wollte er sich rächen. Wörtlich schrieb er über den Kampf gegen die Islamisierung: „Uns Liberale wird man im Westen nur respektieren, wenn wir Gewalt verwenden, wie die Islamisten“.

Wir kennen Attentäter mit einem vergleichbarem Weltbild. Anders Breivik tötete 2011 69 sozialdemokratische Jugendliche, weil er sie für die angebliche “Islamisierung“ Europas mitverantwortlich machte. David Sonboly ermordete 2016 am Jahrestag der Anschläge von Breivik, den er verehrte, neun Menschen in München. Stephan Balliet ermordete 2019 in Halle zwei Menschen, einen davon in einem Dönerimbiss, nachdem es ihm nicht gelungen war, in eine Synagoge einzudringen. Auch er sah sich als Kämpfer gegen einen „Bevölkerungsaustausch“, für den er JüdInnen, Feministinnen und Linke verantwortlich sah. Im Februar 2020 erschoss Tobias Rathjen in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven. Zuvor veröffentlichte er eine „Botschaft an das gesamte deutsche Volk“, worin er zum Krieg gegen die „Geheimorganisation und gegen die Degeneration unseres Volkes“ und zur Vernichtung der Bevölkerung ganzer Staaten aufrief. Der Bundeswehrsoldat Franco Albrecht baute sich eine Scheinidentität als syrischer Flüchtling auf, um mit dieser Tarnung Anschläge zu begehen und damit die islamfeindliche Stimmung anzustacheln. Seine Pläne flogen 2017 auf.
Die Ideologie des Täters von Magdeburg ist auch eine Frucht der deutschen Staatsräson. Als kurz nach dem 7.Oktober Hakenkreuze und Davidsterne auf den geschändeten Gräbern eines muslimischen Grabfeldes auftauchten, hüllte man sich lieber in Israelfahnen und verbot Demos mit der Begründung der emotionalen Verfasstheit arabischer Menschen in Magdeburg. In der Ideologie des Täters sieht man nun deutlich das Zusammenspiel einer faschistischen und zionistischen Denkweise. Auch er steht für Solidarität mit Israel, wie alle Fraktionen im Landtag und er sah sich ebenfalls in einem Kulturkampf gegen den Islam wie die Nazis, die seit Tagen die Magdeburger Innenstadt fluten.

Terror im Kapitalismus

Oftmals waren die Täter den Behörden bekannt, doch haben diese in der Regel kein Interesse an ihrer Verfolgung. Das Desinteresse der Behörden und der Gesellschaft ist im Falle des Täters von Magdeburg ein überzeugendes Beispiel dafür, dass das Vertreten der Staatsräson in der Öffentlichkeit der beste und nachhaltigste Schutz vor Repression ist.
Anschläge, wie der in Magdeburg, dienen einer Strategie der Spannung. Dies ist eine politische Strategie, bei der gewalttätige Auseinandersetzungen eher gefördert als unterdrückt werden. Ziel ist es, ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit in der Bevölkerung zu erzeugen und die Menschen dazu zu bringen, Sicherheit in einer starken Regierung zu suchen. Generell dient so ein Anschlag (ähnlich wie im Krieg) auch dazu, ein gesellschaftliches „Wir“ im Sinne der Bürgerlichen zu schaffen, das vom Klassenantagonismus absieht und die Aufmerksamkeit auf einen „gemeinsamen“ Feind (z. B. auf „Sozialschmarotzer“ oder „Kulturfremde“) lenkt. Berechtigter Unmut über soziale Verwerfungen und aktuelle Krisen soll in Bahnen gelenkt werden, die für die bürgerliche Ordnung der nationalen Formierung und Aufrüstung notwendig sind. Vor allem jetzt soll die Magdeburger Arbeiterklasse ihre arabisch-stämmigen Kollegen als Feinde sehen und nicht die Politiker, die Kriege und Krisen mit Waffenlieferungen und Sozialabbau anheizen.

Terror wird nicht nur zugelassen, er ist ein Grundbestandteil der imperialistischen Gesellschaft und Herrschaft.
Terrorismus ist die „in allen antagonistischen Gesellschaftsformationen existierende Gesamtheit von Methoden, Formen und Mitteln der Machtausübung und politischen Gewaltanwendung staatlicher oder nichtstaatlicher Art, die durch Erzeugen von Angst und Schrecken zur Einschüchterung gegnerischer Klassenkräfte und ihrer Führungspersönlichkeiten bis hin zur physischen Vernichtung gekennzeichnet wird.[…] Das gesamte System der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung aller Werktätigen, des imperialistischen Kolonialismus und Neokolonialismus, der Bedrohung der Existenz- und Entwicklungsgrundlagen der gesamten Menschheit, der geistigen Manipulierung und der moralischen Degeneration ist von den verschiedenartigsten Formen des Terrors gekennzeichnet.“ (Wörterbuch des wissenschaftlichen Kommunismus)

Der imperialistische Terror richtet sich nach innen und außen. Er trifft die Arbeiterklasse und ihre verschiedenen Organisationsformen, die Armen, Ausgebeuteten und Ausgegrenzten. Seine Erscheinungsformen sind u.a. Rassismus, Apartheid, faschistische und Militärdiktaturen, Anschläge von Faschisten, Massenüberwachung und Krieg.
Entweder wird Terror von der herrschenden Klasse direkt als Herrschaftsmethode angewendet, von ihr gebilligt oder von ihr als Konsequenz hervorgebracht.
Fest steht, dass der Anschlag sich nicht gegen die herrschende Ordnung richtete, sondern ihr dient. Er richtet sich in Konsequenz gegen die Arbeiterklasse. Die Ausbeuterklasse kann und will den Terror nicht verhindern.

Was tun gegen den Terror?

Wir sehen, dass es Protest gegen die rassistische Vereinnahmung der Tat gibt, dass es auch Menschen gibt, die der rechten Vereinnahmung entgegentreten. Das begrüßen wir, solange man sich dabei nicht zu den (Wahlkampf-) Gehilfen bürgerlicher Parteien macht.
Anschläge wie dieser sind nur im Interesse der Herrschenden. Sie sollen uns verunsichern, verwirren, traumatisieren, verängstigen, spalten, einschüchtern und letztlich Klassenkämpfe schwächen.
Schon jetzt wurde die Polizeipräsenz bundesweit erhöht. Es ist davon auszugehen, dass der Anschlag zur Erweiterung von Überwachungs- und Polizeibefugnissen genutzt wird.

Betroffenheit, Ohnmacht und Resignation dürfen uns nicht lähmen. Unseren Selbstschutz und unsere Selbstorganisation im Stadtteil zu stärken, hat nun oberste Priorität. Nur so können wir uns selbst, unsere Räume, weitere angriffsgefährdete Orte und NachbarInnen vor rassistischen und faschistischen Angriffen schützen.
Wir stellen uns entschieden gegen die Spaltung der Massen durch Rassismus, Nationalismus und Religion. Nur die internationale Klassensolidarität kann Imperialismus und Kapitalismus überwinden.
Historisch gesehen ist der Terror Mittel der Machtausübung in der Weimarer Republik, im NS und in auch in der BRD. In Magdeburg und dem gesamten Gebiet der DDR haben die Menschen 40 Jahre lang erfahren, was es heißt, in Sicherheit vor faschistischem Terror zu leben. Nur die Arbeiterklasse an der Macht kann konsequent und nachhaltig vor Gewalt und Terror schützen.

Wer den Terror beenden will, muss etwas gegen den Kapitalismus tun, welcher den Terror erst hervorbringt. Die effektivste Terrorbekämpfung bleibt der Kampf für den Sozialismus.

zusammen kämpfen [Magdeburg], 27.12.2024